Der Bilderbuch-Bundespräsident
Mit 94 Jahren ist Richard von Weizsäcker am Samstag in Berlin verstorben – für viele Deutsche verkörperte er den Idealtypus eines Staatsoberhaupts. Sein Brief an einen Achtjährigen spricht Bände.
Lieber Andy, Deinen Brief habe ich leider erst heute bekommen, aber ich freue mich, dass du im dritten Schuljahr schon so gut schreiben kannst.
Inzwischen ist der Krieg zu Ende, und ich bin sehr erleichtert darüber. Krieg ist schlimm für alle, für die Soldaten und vor allem für die Menschen im Land.
Jede und jeder von uns, Politiker, Bürger, in einigen Jahren auch Du, Andy, muss sich dafür einsetzen, daß niemand mehr einen Krieg beginnen will.
Du möchtest wissen, wie alt ich bin – einundsechzig Jahre älter als Du.
Für die Schule wünscht dir Erfolg und hoffentlich auch Freude
Mit herzlichen Grüßen,
Dein Richard Weizsäcker
Im Briefkopf steht: Der Bundespräsident. Daneben das Datum: Bonn, 20. März 1991.
Seit gestern kursiert das Antwortschreiben – handschriftlich unterzeichnet – an den damals achtjährigen Schüler Andy aus Hamburg durchs Internet, wird tausendfach gelesen und verbreitet (hier das Original).
Warum es die Leser so rührt und fasziniert? Vielleicht, weil hier in wenigen, kindgerechten Worten das zusammengefasst wird, was die Präsidentschaft Richard von Weizsäckers ausgemacht hat, sein Programm, sein Vermächtnis.
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“
Knapp sechs Jahre zuvor, am 8. Mai 1985, hat er es länger und staatstragender formuliert, in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, sagt er damals im Deutschen Bundestag.
Was heute wie eine Binsenweisheit klingt, ist für viele Konservative gewöhnungsbedürftig. Viele klatschen nicht, sehen nach wie vor eher die militärische Niederlage als den Sieg über den Faschismus.
Ohne Frage: Weizsäckers Gedanke ist 1985 nicht ganz neu – dass er jedoch von einem Bundespräsidenten zu einer Zeit vorgetragen wird, in der sein eigenes Lager noch weit entfernt von derlei Erkenntnis ist, gibt der Rede eine andere Dimension.
In Nürnberg verteidigt er seinen Vater
Sie ist auch Ergebnis der Auseinandersetzung mit eigenen Kriegserlebnissen. Der Wehrmachts-Offizier Richard von Weizsäcker nimmt am Widerstand nicht teil, sympathisiert aber mit ihm. Dazu passt die Geschichte, dass er, nachdem ein junger Soldat während des Krieges voller Frust auf ein Hitler-Bild feuert, sofort zur Waffe greift und es ihm gleichtut. Damit rettet er sein Leben.
Die Amerikaner sehen später in Weizsäckers Vater Ernst, unter den Nazis Staatssekretär im Auswärtigen Amt, einen NS-Schreibtischtäter. In den Nürnberger Prozessen 1948/49 unterstützt Richard als Jurastudent die Verteidiger des Vaters. Das Familienoberhaupt muss ein Jahr ins Gefängnis.
Protestant, Aristokrat, brillanter Redner
Geboren am 15. April 1920 in Stuttgart, im schwäbischen Bildungsbürgertum, wächst Richard von Weizsäcker im preußischen Berlin heran. Nach dem Krieg geht er in die Wirtschaft, in die Rechtsabteilung von Mannesmann nach Düsseldorf.
1969 folgt er dem Ruf des jungen Helmut Kohl in die Politik. Dieser will die kleinbürgerlich geprägte Partei weltoffener machen. Der promovierte Jurist Weizsäcker passt da gut ins Bild: ein Mann aus der Wirtschaft, Protestant, Aristokrat, Präsident des Kirchentags – und ein brillanter Redner.
„Bundespräsident der Einheit“
Während der Auseinandersetzungen um die Ostpolitik kämpft er im Bundestag an der Seite Willy Brandts und gegen Widerstände in den eigenen Reihen. Schon damals agiert von Weizsäcker über den Parteien, das spätere Zerwürfnis mit Helmut Kohl liegt da schon in der Luft.
„Kanzler der Einheit“ wird dieser immer genannt. „Bundespräsident der Einheit“? Wäre für von Weizsäcker ebenfalls eine statthafte Formulierung. „Die deutsche Frage bleibt so lange offen, wie das Brandenburger Tor zu ist“, formuliert er, der 1981 bis 1984 West-Berlin regiert, schon früh – und der Neigung entgegentretend, das Thema Deutsche Einheit zu den Akten zu legen.
„Zusammenwachsen, nicht zusammenwuchern“
Als es dann offen ist, das Brandenburger Tor, freudentaumelt von Weizsäcker nicht mit, sondern hält sich im Hintergrund, warnt, dass „zusammenwachsen nicht zusammenwuchern“ bedeuten dürfe. Längst weiß man, was er damit gemeint hat.
Und auch seine Mahnung vom 8. Mai 1985, sich „nicht hineintreiben zu lassen in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Juden oder Türken, Schwarz oder Weiß“, wirkt heute aktueller denn je.
Richard von Weizsäcker, am Samstagmorgen im Alter von 94 Jahren im Kreise seiner Familie in Berlin-Dahlem verstorben, war nicht nur ein Großer, er war auch ein Guter.