Der Aufschrei der schwarzen Seele
MÜNCHEN - Die Delegierten auf dem CSU-Parteitag sorgten für eine denkwürdige Veranstaltung. Sie feiern Huber und treiben Beckstein zu Tränen. Sie buhen Stoiber aus und zwingen Seehofer in die Rolle des Therapeuten.
Anspannung und Aufregung. Aufschrei und Abrechnung. Die Seele der CSU ist schwer gestört. Jahrzehnte hat sie ihre Parteitage als politisches Hochamt zelebriert. Seit ihrem Wahldesaster aber ist nichts mehr, wie es war. Die Christsozialen lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Ihren gefeuerten Ministerpräsidenten Günther Beckstein bejubeln sie. Ihren geschlachteten Parteichef Erwin Huber verabschieden sie mit Standing Ovations. Ihren Ehrenvorsitzenden Edmund Stoiber strafen sie brutal mit Buh-Rufen ab. Eine solche Schmach musste in der Geschichte der CSU noch keiner erleben. Die Basis probte: „Jetzt red i“. Ichling Horst Seehofer wandelt sich zum demütigen Missionar und Seelenklempner. Szenen einer Therapie-Sitzung.
Der Schachspieler
Horst Seehofer kommt eine halbe Stunde zu früh. Um 9. 30 Uhr ist die C-Halle auf dem Münchner Messegelände noch völlig leer. „Ich bin richtig ausgeschlafen“, sagt er. „Mir geht’s gut“. Am Abend zuvor, als der Koalitionsvertrag endlich unter Dach und Fach war, hat er sich noch Sorgen um seine Gesundheit gemacht. Ober er ein solches Pensum körperlich durchstehe: „Wenn man früh aufsteht und spät nach Mitternacht ins Bett kommt, und noch eine Stunde braucht, bis man richtig abkühlt und einschlafen kann.“ Doch diese Nacht hat er gut geschlafen: „Ich bin ein Schachspieler. Das Schönste ist, wenn die Gegner erst nach fünf Zügen merken, was der erste Zug bedeutet hat.“ Da hat er noch keinen blassen Schimmer, dass in einer Stunde die „Bauern“ gleich mit dem Eröffnungszug, einen abgedankten König „Schachmatt“ setzen werden.
Der Gefeierte
Der scheidende Ministerpräsident Günther Beckstein sitzt da wie ein Häufchen Elend. Sein Vorgänger Edmund Stoiber, der Ehrenvorsitzende, zelebriert seinen Auftritt wie eh und je. Er kommt als Letzter. In der ersten Reihe haben sie ihm einen Platz reserviert. Stoiber streckt Beckstein die Hand hin, legt sie anschließend seinem Spezl Horst Seehofer auf die Schulter. Noch-Generalsekretärin Christine Haderthauer begrüßt in ihrer Rede Günther Beckstein. Die Delegierten aus Franken jubeln, schreien „Bravo“, die andern stimmen ein – minutenlang. Beckstein weint vor Rührung. Das hat er nicht erwartet.
Der Abgewatschte
Nicht erwartet hat auch Edmund Stoiber, was dann passiert. Der Ehrenvorsitzende wird begrüßt. Er erhebt sich, dreht sich um. Doch ihm schlagen Buhrufe und Pfiffe entgegen. Ihm, dem sie das ganze Desaster verdanken, der erst Intrigant, dann Königsmacher spielte. Auch Ehrengäste pfeifen mit. Unter ihnen Karl Dersch, einer der letzten lebenden Spezln von Franz Josef Strauß. „Das ist der Aufschrei einer gequälten Seele“, sagt er. Stoiber fällt auf seinen Stuhl, presst die Knie zusammen, tippt SMS. Er greift zu einem Tütchen Gummibären. Verschlingt ein paar rote, studiert die Inhaltsstoffe. Danach den Sportteil der Zeitung und dann seinen Terminkalender. Hauchdünn mit Bleistift sind seine Termine eingetragen. Nicht viele. Einer, mal zwei, ganz selten drei stehen auf den Seiten vom 2. bis 11.November, die er immer wieder durchblättert. Seehofer schaut mit einem Seitenblick skeptisch hinüber.
Der Prediger
„Lernprozesse können bisweilen schmerzlich sein“, sagt der evangelische Pfarrer Dieter Breit bei seinen geistlichen Worten. Die Suche nach Sündenböcken sei ein uraltes Spiel. „Es bringt immer Unheil, wenn man sich um die Reflexion der eigenen Verantwortung drücken und stattdessen andere in die Wüste schicken will“, warnt Breit. Applaus der Franken unterbricht die Minuten der Besinnung.
Die Luftmacher
Andreas Galster ist Bürgermeister im mittelfränkischen Baiersdorf. Er sprintet die Stufen hoch zum Mikrofon. „Wir haben Herrn Beckstein gewählt und niemanden anderen. Von einem Herrn Seehofer war nie die Rede.“ Der niederbayerische Delegierte Peter Erl kommt aus der BMW-Stadt Dingolfing. Er trage die Entscheidung für Seehofer ja mit: „Aber der kleine Mann an der Basis sagt: Ich habe einen BMW-Beckstein bestellt und einen Audi-Seehofer bekommen.“
Die Stammeskrieger
Zwei dicke rote Streifen am Boden teilen die C-Halle. Als wären sie extra gezogen, als Demarkationslinie zwischen verfeindeten bayerischen Stämmen. Rechts sitzen die Franken und Oberpfälzer – die Beckstein-Getreuen. Links die Oberbayern, die Beckstein gestürzt haben. Neben ihnen die Münchner, Schwaben und Niederbayern, die sofort zu Seehofer übergelaufen sind. „Meine erste Aufgabe wird sein, hier missionarisch tätig zu werden, um alle Volksstämme zu vereinen“, sagt der neue Parteichef und appelliert an die Basis, die Grabenkämpfe zu beenden.
Der Entlastete
„Das ist fei keine Entlassung, das ist eine Entlastung“, sagt Erwin Huber als er vom Parteitag als CSU-Chef entlastet und später mit Standing Ovations verabschiedet wird. Er hält seine beste Rede, spart auch nicht an Selbstkritik: „Ich weiß, dass ich die Erwartungen des Parteitags, der mich vor einem Jahr gewählt hat, nicht er erfüllt habe.“ Aber er stehe dazu, dass ein Politiker auch die Suppe auslöffeln müsse, die er nicht selbst eingebrockt hat.
Der Demütige
Seehofer stapelt ganz tief. „Ich weiß nicht, ob ich all die Erwartungen erfüllen kann, die jetzt auf mir lasten.“ In seiner Rede zieht er vor allem eine Bilanz zum Koalitionsvertrag. Er verspricht, dass die Zwangsehe mit der FDP „in Bayern nur ein singuläres Ergebnis“ sein wird. „Wir müssen den Menschen besser zuhören.“ Er appelliert an das Selbstbewusstsein der CSU: „Wir sind ein Kraftpaket.“
Die Familie
Es ist ein Parteitag ohne Ehefrauen. Beckstein und Huber, die vor einem Jahr noch mit ihren Gattinnen Marga und Helma einzogen, um es den Stoibers gleich zu tun, sind jetzt solo da. Seehofer hat seine Ehefrau Karin nicht mitgebracht. „Wir machen das ganz normal“, sagt er. Erst heute im Landtag wird sie als neue First Lady dabei sein. Dafür ist Sohn Andreas (20) in der Halle. „Läuft ganz gut“, lobt er den Papa kurz vor der Krönung.
Die Krönung
Die Delegierten sind gnädig und demonstrieren doch noch die viel beschworene Geschlossenheit. Über 900 sind anwesend. 884 geben ihre Stimme ab. 14 Stimmzettel sind ungültig. 84 sind gegen Seehofer, 786 für ihn. Nach CSU-Rechnung 90,34 Prozent. Die ungültigen Stimmen werden nicht mitgezählt. Sonst blieben nur 88,91 Prozent.
Seehofer will sich nicht feiern lassen, bricht den nicht gerade überschwänglichen Applaus gleich ab. Bloß kein Siegerpose jetzt. Als die obligatorische Frage gestellt kommt, ober er die Wahl annehme, sagt er: „Ich denke schon.“ Zu denken gibt ihm dieser Tag viel. Denn in sieben Monaten ist Europawahl, in elf Monaten Bundestagswahl. Den Denkzettel bekommt anschließend sein neuer Vize, der Landesgruppenchef Peter Ramsauer. Nur 67 Prozent sind für ihn. Ramsauer ist Oberbayer.
Er ist das bislang letzte Opfer der Abrechnung.
Angela Böhm