Das Scherbengericht: Der Krisenparteitag der SPD
Heute beginnt der Krisen-Parteitag der SPD: Auf der Agenda stehen eine schonungslose Abrechnung, ein möglicher Abschied im Zorn – und vielleicht ein neuer Anfang
BERLIN Im besten Fall wird es ein reinigendes Gewitter. Im schlechtesten kommt es zur offenen Zerfleischung – und der Zementierung des Niedergangs der SPD: Heute beginnt in Dresden der Krisen-Parteitag nach dem Desaster bei der Bundestagswahl. Die AZ erklärt Akteure und Fronten.
Die Lage: Die Partei ist seit der Wahl noch weiter abgerutscht, von 23 auf 20 Prozent. Dem künftigen Parteichef Sigmar Gabriel trauen nur 53 Prozent der eigenen Basis Gutes zu. Die Partei ist zutiefst erschüttert, viele Delegierte wollen abrechnen. Gestern häuften sich die leicht panischen Appelle der Führungsebene, man möge doch bitte „fair diskutieren“ und „nicht nur rückwärtsgerichtet“, sondern auch nach vorne. Grünen-Chefin Claudia Roth ist besorgt: „Wenn die SPD scheitert und ihren Schrumpfungsprozess fortsetzt, wird das die politische Republik stärker verändern als die Linkspartei.“
Abschied und Abrechnung. Eine zentrale Rolle spielt der Auftritt von Franz Müntefering: Bietet er sich als Sündenbock an? Übt er Selbstkritik oder verteidigt er rotzig sein politisches Werk? Noch hat niemand außer ihm das Manuskript für die Rede gesehen. „Da redet ihm keiner rein“, sagt einer aus der Führung. Müntefering weiß, dass er am Ende seines politischen Weges angekommen ist – er, der einzige in der SPD, der die ganzen elf Regierungsjahre in zentralen Rollen mitgemacht hat; sehr rasch abserviert nach der Wahl und nun in den Basis-Konferenzen als Feindbild Nr. 1 beschimpft – für seinen Basta-Stil und für ungeliebte Reformen wie die Rente mit 67. Der Abschied fällt ihm schwer, sagt sein Umfeld. Darüber reden will er nicht, das sei „Kiki“ und „Psychokram“. Aber auf das Büßergewand hat er noch weniger Lust. Die Frage, wie hart er seine Position vertritt, wie er mit der neuen Führung umgeht, welche Art von Vermächtnis er abgibt, wird wegweisend für den Verlauf des Parteitags.
Der Neue. Sigmar Gabriel (50) wird ein Krisen-Chef in Krisen-Zeiten. Er weiß, auf welchem Schleudersitz er da Platz nimmt; und die Partei ist noch nicht wirklich überzeugt von der politischen Rampensau, deren inhaltliche Substanz bisher eher spärlich präsent war. Aber einen anderen hat sie nicht, und die Schnupper-Tour an der Basis scheint gut gelaufen zu sein – reden kann er ja. Spannend wird sein Votum: Die bescheidenen 77,7 Prozent bei seiner Nominierung im Vorstand waren ein erster Warnschuss.
Die Neue. Andrea Nahles (39) als Generalsekretärin hatte da sogar nur 66 Prozent: Noch gibt es viel Skepsis über das zusammengebastelte Tandem von zwei Menschen, die bisher so wenig wie möglich miteinander geredet haben. Jetzt bemühen sie sich nach Kräften, artig miteinander umzugehen. „Sehen Sie, er sagt bitte! Das ist ein ganz neuer Ton“, sagt Nahles. Gabriel brav über Nahles: „Sie muss mir auf die Finger hauen.“
Der Wut-Fahrplan. Die Parteitagsregie plant genügend Ventil ein: Die Rednerliste ist offen, jeder darf seiner Wut Luft machen. Der heutige Freitag ist für das große Scherbengericht reserviert, bei Bedarf werden die Wahlen auf Samstag verlegt. Basis dafür ist der Leitantrag der Parteispitze mit tonnenweise Selbstkritik. Nicht direkt ein Leitantrag, aber vielleicht hilfreich ist der Antrag des fränkischen Ortsvereins Neuhof-Unterkotzau-Wölbattendorf: „Der Parteivorstand möge beschließen, dass sich die SPD auf ein langfristiges Erscheinungsbild festlegt.“ tan
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