Angela Merkel und Gerhard Schröder ließen ihn gewähren: "Putin reagiert nur auf Macht und Härte"
Vor knapp anderthalb Jahren überfiel Russland das Nachbarland Ukraine – auf Geheiß von Kreml-Chef Wladimir Putin, der eine neue "Russki Mir" ("Russische Welt") schaffen will. Dass es so weit kommen konnte, dafür tragen auch die früheren deutschen Regierungschefs – Angela Merkel und Gerhard Schröder – Verantwortung, findet der Journalist Markus Wehner.
In seinem neuen Buch "Die Moskau-Connection" beschreibt er, welche Entwicklungen sich bereits vor Jahren vorhersehen ließen und den einzigen Weg, Putin im Ukraine-Krieg zu stoppen.
AZ: Herr Wehner, hätte es Ihr Buch "Moskau-Connection" ohne den Ukraine-Krieg auch gegeben?
MARKUS WEHNER: Dieses Buch ist schon der Versuch, die Frage zu beantworten, wie es zu diesem Krieg kommen konnte. Dazu gehört, dass sich Deutschland in eine so starke energiepolitische Abhängigkeit von Russland begeben hat, dass man von Erpressbarkeit reden kann. Vor allem aber: Wie konnte Deutschland bloß so lange und so naiv auf Putin schauen? Ich habe 2016 bereits ein Russland-Buch geschrieben, in dem ich die These aufstelle, dass Putin einen Krieg gegen den Westen führt und wir uns mit einer Politik der Härte dagegenstellen müssen. Das hat aber damals nicht sehr viele Politiker interessiert. Obwohl ich nicht der Einzige war, der das so gesehen hat.
Buch "Die Moskau-Connection": Schröder, Gabriel und Steinmeier kommen nicht gut davon
Ehemalige SPD-Spitzenpolitiker wie Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier werden mit ihren ganzen Widersprüchen in der Russland-Politik dargestellt und kommen nicht besonders gut davon. Haben sich die Herren schon bei Ihnen beschwert?
Nein. Wir haben eher das Gefühl, dass man versucht, die Sache zu beschweigen.

Es geht in dem Buch vor allem um das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit, aber auch um Schröders Nachfolgerin Angela Merkel. Merkels Sicht auf den Kreml und Wladimir Putin wirkt fast ein wenig naiv. Stimmt der Eindruck?
Merkel ist mit Russland besser vertraut als die meisten anderen Politiker, nicht zuletzt von der SPD. Sie ist im Osten groß geworden, sie kennt die Sprache, das Land und das System. Sie hat manches sicherlich besser verstanden als andere in der Bundesregierung. Aber sie hat eben auch manches falsch gesehen.
Autor Markus Wehner: "Merkel hat unterschätzt, wie unbedingt Putin seine Ziele verfolgt"
Zum Beispiel?
Sie hat unterschätzt, wie unbedingt Putin seine Ziele verfolgt. Sie hat wohl immer gedacht, dass sie ihn irgendwie einhegen könnte. Dahinter steckte der Gedanke, dass er nicht zum Äußersten bereit wäre, wenn man ihm seinen Platz gibt. Das hat sich als falsch erwiesen. Als Regierungschefin, die 16 Jahre an der Macht war, hat sie natürlich eine enorme Verantwortung für das, was wir in dem Buch als größten Fehler der deutschen Außenpolitik seit 1945 bezeichnen – nämlich diese Unterschätzung des Putin-Regimes. Die Kosten dafür trägt jetzt die Bevölkerung der Ukraine. Von dieser Verantwortung kann sie sich nicht lossagen.
Sie schreiben, Merkel und andere in der Regierung hätten 2008 zunächst nicht bemerkt, dass Dmitri Medwedjew lediglich Präsident wurde, um Putin den Platz freizuhalten. So verblendet können sie in Berlin doch damals unmöglich gewesen sein?
Ja, das scheint im Nachhinein sehr naiv. Aber man darf nicht vergessen, dass US-Präsident Barack Obama damals mit ihr einig war. Es gab eine gewisse Hoffnung, dass man Medwedjew stärken und er sich dann gegen Putin durchsetzen könne. Ein Fehler sicherlich.
Ostpolitik in den 70ern und 80ern: Auch die Rollen von Willy Brandt und Helmut Schmidt gehören auf den Prüfstand
Ihr Buch stützt sich auf die These, die Ostpolitik von Willy Brandt und anderen SPD-Politikern sei für die heutigen Zustände verantwortlich. Was halten Sie von dem Gegenargument, dass es ohne Brandt zwischen Ost und West keine Entspannung und damit auch den Mauerfall nicht gegeben hätte?
Da haben Sie uns falsch verstanden, das ist nicht unsere These.

Aber Sie kritisieren die SPD heftig für ihren Kurs.
Die Ostpolitik war deutschlandpolitisch motiviert, das heißt, man wollte eigentlich den Zustand zwischen der Bundesrepublik und der DDR irgendwie erträglicher machen. Damals hat man gesagt: Wir müssen mit Moskau verhandeln, um die Zone zu transformieren. Das waren Egon Bahrs Worte, das war der Ausgangspunkt. Daraus hat sich, auch mit amerikanischer Unterstützung, die Entspannungspolitik entwickelt. Es gab da viele richtige Dinge, beispielsweise den Grundlagenvertrag zwischen Bonn und Ostberlin 1973.
Es gab aber in der SPD spätestens ab den 1980er Jahren eine zweite Phase der Ostpolitik. Da haben die Sozialdemokraten die Ostpolitik nur noch als eine Art von Sicherheitspartnerschaft mit dem kommunistischen Regime verstanden. Die Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa, die Gewerkschaft Solidarnosc in Polen wurden als Störfaktor gesehen. Eine Differenzierung zwischen diesen beiden Phasen, und das ist unser Vorwurf, wird in der Partei bis heute nicht betrieben. Dabei wäre sie dringend notwendig, und man darf die Säulenheiligen der SPD, also den heiligen Willy und den seligen Egon, aber auch Helmut Schmidt und andere, dabei nicht ausnehmen.
Krieg in der Ukraine: "Menschenleben spielen für Putin keine Rolle"
Sie waren fünf Jahre lang Korrespondent in Moskau und haben, wir sprachen schon darüber, in einem 2016 erschienenen Buch bereits davor gewarnt, dass Russland den Westen vor sich hertreibt. Putin hatte zwei Jahre vorher die Annexion der Krim befohlen. Kam Ihnen damals der Gedanke, dass er es dabei nicht bewenden lassen würde?
Ich will nicht behaupten, dass ich den großen Angriff auf die Ukraine damals schon vorausgesehen hätte. Was ich aber gesehen habe, ist, dass Putin immer schon auf Krieg gesetzt hat und Menschenleben für ihn keine Rolle spielen. Nehmen wir das Beispiel Tschetschenien: Dort hat man, wie jetzt in der Ukraine, Massengräber mit Leichen gefunden, denen zuvor die Augen verbunden und die Hände gefesselt worden waren. Diese Art von Kriegsführung war leider nicht neu.
"Moskau-Connection" erlaubt faszinierende Einblicke in die Gedankengänge von Wladimir Putin und seine Sicht auf den Westen. Ist vor diesem Hintergrund eine friedliche Beilegung des Ukraine-Krieges überhaupt denkbar?
Ich kann mir das nicht vorstellen. Putin reagiert nur auf Macht, auf Stärke, auf Härte, aber nicht auf Kompromisse oder Kompromissangebote. Das wird von ihm als Schwäche empfunden. Die einzige Antwort, die er ernst nimmt, ist Abschreckung durch militärische Härte. Deswegen muss man meines Erachtens alles dafür tun, dass die Ukraine so weit wie möglich siegt. Nur dann wird er irgendwie bereit sein zu reagieren.
Reinhard Bingener, Markus Wehner: Die Moskau-Connection – Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit, C.H. Beck Verlag, 18 Euro