Zentrum für Luft- und Raumfahrt zur NS-Zeit: "Aus heutiger Sicht macht das fassungslos"
AZ: Frau Wichner, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) lässt seit Kurzem seine Geschichte aufarbeiten. Warum jetzt?
JESSIKA WICHNER: Um die Geschichte aufarbeiten zu können, braucht es Quellenmaterial. Seit 2007 haben wir im DLR ein zentrales Archiv aufgebaut. Für die systematische Auswertung musste das Material erst gesichtet, katalogisiert und digitalisiert werden. Das ist eigentlich der Hauptgrund, warum man sagen muss: erst jetzt. Ich möchte es umformulieren: Wir freuen uns, dass jetzt die Rahmenbedingungen geschaffen sind und die Aufarbeitung beginnen kann.
"Wir wissen, dass staatlich viel Einfluss auf die Luftfahrtforschung genommen wurde"
Es geht in acht Projekten um den Zeitraum zwischen 1907 und 1945. Das umfasst beide Weltkriege. Haben Sie Sorge, dass dunkle Seiten zum Vorschein kommen werden?
Deswegen machen wir es ja, weil wir wissen wollen: Was haben unsere Vorgänger-Organisationen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges gemacht? Wir möchten Klarheit darüber haben und sind froh über jedes Ergebnis, das kommt.

In der Ankündigung des Projekts heißt es, dass die Forschungen das Vorbereiten und Führen eines Angriffskrieges unterstützten. Was weiß man darüber schon?
Die Luftfahrtforschung ist in verschiedenen Bereichen schon gut erforscht, es gibt zum Beispiel die Habilitationsschrift von Professor Dr. Trischler vom Deutschen Museum, der zur Luftfahrt- und Raumfahrtgeschichte von 1900 bis 1970 gearbeitet hat. Den groben Rahmen kennen wir. Wir wissen, dass staatlich viel Einfluss auf die Luftfahrtforschung genommen wurde.
Zweiter Weltkrieg: In der Luftfahrtforschung spiegeln sich drei Phasen wider
Haben Sie ein Beispiel?
Die Aerodynamische Versuchsanstalt in Göttingen ist 1937 aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ausgelöst und direkt dem Reichsluftfahrtministerium unterstellt worden. Damit hatte das Ministerium vollen Zugriff auf die dortigen Arbeiten. Wenn man sich den Zweiten Weltkrieg anschaut, gibt es drei Phasen, die sich in der Luftfahrtforschung widerspiegeln. Zunächst einmal die Erprobung und Entwicklung von Jagdflugzeugen. Danach kommen die Bomber und später die Wunderwaffen V1, V2 und mehr. Uns interessiert nun, wie genau unsere Vorgänger-Institutionen in dieses System eingebunden waren.
Gibt es Berichte von Mitarbeitern, die mit dieser Kriegsausrichtung nicht einverstanden waren?
Ich habe bisher in den Quellen nichts darüber gefunden, dass sich jemand hingestellt hat und gesagt hätte: Das System ist blöd, lasst uns auf die Barrikaden gehen. Es kann natürlich sein, dass im Laufe der Aufarbeitung Quellen zu Widerständlern gefunden werden.
Menschenversuche im KZ in Dachau?
1937 wurde das Flugfunk-Forschungsinstitut in Oberpfaffenhofen angesiedelt. Auch dort ging es schnell um den Krieg. Was wurde dort gemacht?
Man weiß, dass dort vor allem Hochfrequenztechnik, das heißt Funk-Forschung, erprobt wurde.

Es soll bei der historischen Aufarbeitung auch um Zwangsarbeiter gehen. Wie viele waren davon betroffen?
Das wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht und können daher keine Zahlen nennen.
Jessika Wichner: "Persönlich nimmt mich das sehr mit"
Menschenversuche lautet ein weiterer Schwerpunkt. Was muss man sich darunter vorstellen?
Es geht um Menschenversuche, um Höhenforschungsversuche, im KZ in Dachau. Diese wurden über das Institut für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt durchgeführt, eine unserer direkten Vorgänger-Institutionen. Der Institutsleiter Siegfried Ruff hat diese Menschenversuche 1942 betreut, dafür wurde eine Unterdruckkammer in das KZ gebracht. Uns interessiert hier auch: Was passierte nach 1945? Sowohl in der Forschung als auch in den personellen Kontinuitäten, Siegfried Ruff ist wieder Institutsleiter der dann gegründeten Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt geworden.
Wie ist das für Sie, wenn man von Menschenversuchen hört?
Persönlich nimmt mich das sehr mit, und man kann nicht nachvollziehen, was man damals mit den Menschen gemacht hat. Aus unserer heutigen Sicht macht das fassungslos.
Handelte die Instituts- oder Abteilungsleitung mit Kalkül?
"Irrwege und Sackgassen" sollen Historiker ebenso beleuchten - was fällt darunter?
Die Vorgänger-Institutionen haben viele Berichte darüber verfasst, woran sie geforscht haben. Man kann daran sehr schön nachvollziehen, ob eine Forschungstätigkeit später in eine Innovation mündete oder in einer Sackgasse - oder auch ein bewusst gewählter Irrweg war.
Wie meinen Sie das?
Die Wissenschaftler waren während des Zweiten Weltkrieges zwar Mitarbeiter der Vorgänger-Institutionen, ihnen drohte aber immer auch die Beorderung an die Kriegsfront. Um Mitarbeiter nach Möglichkeit als unabkömmlich einstufen und weiter in der Einrichtung arbeiten lassen zu können, musste man dem Staat eine Forschung anbieten, die ein Schlagwort enthielt.
Welches zum Beispiel?
Man hat in der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen Akustikforschung betrieben. Man wollte mithilfe von Mikrofonsonden, die man an Flugzeugen angebracht hat, feindliche Bomber detektieren. Das läuft zu einer Zeit ab, in der es in Großbritannien schon die Radar-Entwicklung gibt. Hier in Deutschland hat man das Projekt aber vonseiten des Reichsluftfahrtministeriums weiter gefördert, weil im Schlagwort "Detektion von feindlichen Bombern" stand. So konnten diese Mitarbeiter, die sich damit beschäftigten, in der Einrichtung bleiben und wurden nicht an die Front geschickt. Manchmal war es also Kalkül der Instituts- oder Abteilungsleitung, sie wollten ihre Mitarbeiter nicht verheizen und sie nach Möglichkeit schützen. Also gaben sie etwas nebulöse Themen an, die auf staatlicher Seite auf offene Ohren stießen. Eine weitere Möglichkeit für eine Sackgasse könnte sein, dass damals die richtigen Materialien noch fehlten. Das Thema des Scheiterns ist also spannend: Was steckt dahinter?
"Ludwig Prandtl war in das NS-Regime verstrickt, keine Frage"
Sie nannten vorhin schon die personelle Seite - was wurde aus Mitarbeitern, die das NS-Regime unterstützt haben?
Grundsätzlich war die Luftfahrtforschung nach 1945 erst einmal verboten, erst ab Mitte der 50er wurde sie wieder erlaubt. Das heißt, sie mussten sich erst einmal umorientieren und andere Stellen annehmen. Wissenschaftler, die nach 1945 weiter beschäftigt werden wollten, mussten sich in der Regel einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen. Bei einem Teil funktionierte das, aber natürlich sind nicht alle entnazifiziert worden.
Der Freisinger Ingenieur Ludwig Prandtl zum Beispiel war der Mitbegründer des DLR-Vorgängers und stand dem NS-Regime nahe.
Ludwig Prandtl war in das NS-Regime verstrickt, keine Frage. Er war relativ alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Die Alliierten wollten mit ihm keinen Neustart. Er ist 1946 an der Uni pensioniert worden, hatte zwar noch eine Abteilung im Institut für Strömungsforschung, aber war nicht mehr der Leiter. Er musste nicht mehr in die Entnazifizierung und schied aus dem aktiven Dienst aus.
Jessika Wichner: "Wir stehen zu unserer Geschichte"
Wann rechnen Sie mit Ergebnissen der Aufarbeitung?
Die ersten Zwischenergebnisse werden ungefähr in einem Jahr fertig sein. In zwei Jahren werden fünf Projekte abgeschlossen sein. Damit wir auch eine Qualitätssicherung garantieren können, haben wir einen wissenschaftlichen Beirat eingesetzt. Wir wollen keinen Einfluss auf die Studie nehmen. Deswegen stellen wir auch keine Historiker im DLR an, sondern wir haben ein europaweites Ausschreibungsverfahren in die Wege geleitet.
Was passiert mit den Ergebnissen, was sind mögliche Konsequenzen?
Das hängt davon ab, welche Ergebnisse rauskommen. Wir werden sie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, das ist uns wichtig. Denn es ist unsere Geschichte, wir stehen zu unserer Geschichte, wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. Wir werden dann sehen, wie wir adäquat darauf reagieren.
- Themen:
- Panorama