"Mensch ärgere dich nicht": Das Brett, das die Welt bedeutet

Vor 100 Jahren erfindet ein Münchner aus Giesing das Gesellschaftsspiel „Mensch ärgere dich nicht“, um seine drei Söhne zu beruhigen – und wühlt Millionen Familien auf.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Die Spielfiguren, Pöppel genannt, fliegen durch die Luft: Wahrscheinlich hat wieder mal jemand vor Wut auf das Brett geschlagen.
vario images Die Spielfiguren, Pöppel genannt, fliegen durch die Luft: Wahrscheinlich hat wieder mal jemand vor Wut auf das Brett geschlagen.

Vor 100 Jahren erfindet ein Münchner aus Giesing das Gesellschaftsspiel „Mensch ärgere dich nicht“, um seine drei Söhne zu beruhigen – und wühlt Millionen Familien auf.

So, jetzt bist du dran, Heinz-Rüdiger!“ Doch der arme Junge hat keine Lust mehr auf „Mensch ärgere dich nicht“. Als ihn sein Vater alias Gerhard Polt dann zum x-ten Mal rauswirft, wischt er aus Frust sogar die Spielfiguren vom Brett. Ein Fehler. „Dir werden wir das Spielen schon noch beibringen, du Malefiz!“, droht daraufhin die Mama (Gisela Schneeberger). Und Papa kündigt sogar an, „Mensch ärgere dich nicht“ mit in den Italien-Urlaub zu nehmen: „Dann wird so lange gespielt, bis du den Ernst von dem Spiel amol begreifst!“

Eine Szene, bei der nahezu jedem Deutschen das Lachen im Halse stecken bleiben dürfte. 80 Millionen Mal wurde das Gesellschaftsspiel hierzulande bislang verkauft, ruht in unzähligen Wohnzimmerschrankschubladen und hat wahrscheinlich für mehr innerfamiliäre Verwerfungen gesorgt als Thomas Gottschalk und die Fernbedienung.

Diesen Monat feiert die folgenreiche Erfindung ihren 100. Geburtstag, die Deutsche Post brachte sogar eine Sonderbriefmarke heraus. Dabei soll es eigentlich schon 1905 gewesen sein, als der Münchner Angestellte Josef Friedrich Schmidt aus Giesing (der spätere Gründer von Schmidt-Spiele) das Brettspiel entwarf, um seine drei lebhaften Söhne zu beruhigen und das Gegenteil erreichte.

Populär wurde das konfliktreiche Spiel passenderweise im Ersten Weltkrieg: Patriot Schmidt ließ 1914 3000 „Mensch ärgere dich nicht“-Sets zur Unterhaltung der Soldaten an die Front schicken. Auf die wirklich glaubwürdige „Dolchstoßlegende“, dass es das Spiel war, das die Moral der Truppen zersetzte, und nicht die demokratische Bewegung im Hinterland, kam bislang komischerweise aber noch niemand.

Ab 1918 eroberte das Brett nach den Schützengräben die Wohnzimmer – die Heimkehrer brachten es mit. Warum dann aber ausgerechnet dieses simple Konzept zum Marktschlager wurde, lässt Spekulationen zu. Vielleicht lag’s daran, dass in der streng hierarchischen Weimarer Gesellschaft erstmals so etwas wie ein klassenloses Vergnügen möglich war, zumindest auf dem Spielbrett jeder jeden rausschmeißen konnte.

Heute ist „Mensch ärgere dich nicht“, das unter Hitler „Das totale Spiel“ und in der DDR „Danke für den Rauswurf“ hieß, nach wie vor beliebt – Kenner spielen allerdings mit verschärften Regeln, zum Beispiel Rückwärts-Schlagen, Fallen-Stellen (dazu darf jeder irgendwo eine Münze hinlegen) oder selbstgemachten Ereignis-Karten.

Was aber auch zum 100. noch fehlt, sind seriöse Studien, inwiefern das Spiel zur steigenden Zahl der Scheidungen und Ein-Personen-Haushalte beigetragen hat. Fest steht: In den USA heißt es „Frustration“.

Timo Lokoschat

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.