Germany's next Top-Problem
Das Fernsehen lebt den Schlankheitswahn vor - in einer Münchner WG kämpfen Jugendliche gegen Essstörungen. Eine AZ-Reportage über das Leben mit Bulimie und Magersucht.
Antonias Augen verengen sich, als Heidi Klum auf dem Bildschirm erscheint. Ihre Worte dröhnen in den Ohren. „Du bist zu dünn“, sagt Klum zu der Kandidatin von „Germany’s next Topmodel“. Das Mädchen bricht unter Tränen zusammen. War in der ersten Staffel ein Kandidatin mit 52 Kilo zu dick, sind nun 48 Kilo bei 1,70 Metern zu wenig.
Antonia schluckt, blickt die anderen Mädels im Fernsehraum der Essgestörten-WG an. Sie schauen auf ihre Finger, T-Shirts werden glatt gestrichen, Haare gedreht. „Das kann ich echt nicht gebrauchen. So eine blöde Sendung“, platzt es aus Antonia raus, sie rennt auf ihr Zimmer.
43 Kilo bei 1,74 Meter
Ihre Freundin Alena bleibt, starrt still auf Heidis Lächeln. Alena weiß, wie es ist, wenn vermeintliche Traummaße in greifbare Nähe rücken – und unterschritten werden. „Zu dicke Schenkel, der Bauch könnte flacher sein“, mäkelte sie vor zwei Jahren an sich herum, als die erste Staffel von „Germany’s next Topmodel“ lief. Doch Alenas Bauch war flach, die Oberschenkel so dünn, dass die Knie sich spitz abzeichneten. Sie wog 43 Kilo bei 1,74 Meter.
Erst aß sie noch zwei Löffel Müsli, bald trank sie nur Milch. Am Ende eine Karotte am Tag. „An der kaute ich bis zu einer Stunde“, sagt Alena. In sechs Monaten hatte die Magersucht aus ihr ein schattenhaftes Wesen gemacht. Eine junge Frau im Körper eines Kindes. Heute sagt die 17-Jährige: „Ich war abstoßend, überall stachen meine Knochen hervor.“
Jeder Zehnte überlebt die Kasteiung nicht
Über 100 000 Menschen in Deutschland sind magersüchtig, die Dunkelziffer liegt weit höher. War es lange eine Krankheit der jungen Mädchen, schnellen mittlerweile auch die Zahlen von essgestörten Männern und sogar Grundschülern nach oben. Jeder Zehnte überlebt die Kasteiung nicht, stirbt an Organversagen oder einer Grippe, weil der Körper so geschwächt ist.
Warum Alena sich an die Grenze zum Tod hungerte, kann sie heute nicht mehr verstehen. „Ich wollte nie sterben, ich wollte leben.“ Als sie durch den Druck ihrer Mutter merkte, wie krank sie war, war es zu spät. „Ich versuchte zuzunehmen, aber es ging nicht. Ich hatte das Gefühl verloren, wie viel Essen ein Mensch zum Leben braucht.“
Vor Kälte zitternd saß sie an der Heizung, versuchte sich mit Puzzlen von dem Gedanken an Essen abzulenken. Doch der Wunsch ließ nicht nach, Alena suchte sich Ersatz: „Im Internet habe ich Rezepte gelesen und mir vorgestellt, wie das alles schmeckt.“ Die Magersucht wurde zur ständigen Begleiterin, sogar zur besten Freundin. Sie gab Halt an schlechten Tagen, gab scheinbar Kraft, wenn Selbstzweifel auftauchten.
Irgendwann der einzige Lebensinhalt
Die Magersucht wurde zum wichtigsten Lebensinhalt, irgendwann zum einzigen. „Ich konnte alles zum Essen haben, aber ich wollte nichts.“ Der Versuchung widerstehen, stärker sein als die Klassenkameraden – Alena spürte durch das Hungern eine Überlegenheit.
„Ich war in der Klasse als einzige Magersüchtige was Besonderes, bekam mehr Aufmerksamkeit. Auch wollte ich mit dem Hungern ausdrücken, dass es mir schlecht geht, habe gehofft, dass mein Vater mich mehr beachtet“, sagt die Münchnerin. Doch der von der Familie getrennt lebende Vater konnte mit seiner immer weniger werdenden Tochter nicht umgehen.
Alenas Traurigkeit wurde größer, sie begann aber eine ambulante Therapie. Sie versprach zu essen – und ließ die Mahlzeiten heimlich im Ärmel verschwinden. „Bald war ich so schwach, dass ich in die Klinik wollte.“ Dort verbrachte sie drei Monate. Und fand neue Schlupflöcher: „Das Essen wurde abgewogen, damit man zunahm. Ich habe für jede Tortellini die Kalorien ausgerechnet und genau so viele gegessen, dass ich nicht zunahm.“
Ein Wiegezwang
Alena flog aus der Klinik, weil sie keine Fortschritte machte. Zu Hause kam sie in einen Wiegezwang. „Wenn die Portion nicht aufs Gramm stimmte, konnte ich sie nicht essen.“ Der Tiefpunkt war für Alena ein Abendessen beim Italiener. In ihrer Handtasche hatte sie eine Waage mitgenommen. „Ich habe mir die Zutaten einzeln bringen lassen, sie gewogen. Mitten im Restaurant.“
Alenas letzte Reserven waren aufgezehrt, sie meldete sich bei Anad, kam in eine Wohngruppe für Essgestörte. In fünf Monaten nahm sie neun Kilo zu, 500 Gramm fehlen noch zum Normalgewicht. „Es gibt gute Tage, da läuft alles wie in einem völlig normalen Leben, das ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl.“
Mit Essstörung groß geworden
Ein normales Leben hat ihre WG-Freundin Antonia nie geführt. Die 18-Jährige leidet seit sieben Jahren an Bulimie. Seit sie vier Jahre alt ist, ist Antonia essgestört. „Ich bin mit Essstörung groß geworden. Sie ist ein Teil von mir“, so die Gymnasiastin. Schon im Kindergarten fand sie sich pummelig. „Jede Kritik habe ich auf meinen Körper bezogen, wollte abnehmen. Geschafft habe ich das nie.“
Antonia entdeckte einen anderen Weg, der ihr Kontrolle über ihren Körper gab: Sie erbrach. „Ich wollte es allen recht machen. Eine schlechte Note habe ich mit Essen ausgeglichen.“ Sie schlang Pizza, Eis und Müsli hinunter, aß weit über den Hunger hinaus. Dann schloss sie sich im Bad ein, steckte den Finger in den Hals. „Plötzlich habe ich jeden Tag erbrochen. Ich fand das Kotzen nicht mal mehr ekelig.“ Erst wenn sie Galle schmeckte, gab Antonia sich zufrieden. „Danach war ich wahnsinnig erschöpft.
"Meine Familie hat nichts mitbekommen"
Der Magen war leer, alles war wieder gut.“ Was blieb, war die Einsamkeit. „Meine Familie hat nichts mitbekommen. Ich lernte, lautlos zu erbrechen.“ Erst bei Anad merkte Antonia, wie krank sie ist. Doch Bulimie ist tückisch. „Manchmal spüre ich schon morgens, dass ich mich nicht mag. Es fällt mir schwer, immer wieder gegen mich kämpfen zu müssen.“
Ein tagtäglicher Kampf, den der 23-jährige Christian gut kennt. Er ist einer der wenigen Männer, die magersüchtig sind und sich öffentlich dazu bekennen. Doch nur am Telefon, mit Distanz, ist es dem Fachhochschüler möglich, über sein Leben zu sprechen.
104 Kilo wog er als Jugendlicher. Er nahm 20 Kilo ab, dann 30, am Ende ohne Ziel. „Ich fand mich immer gleich dick, egal, was die Waage zeigte.“ Mit 49 Kilo bei 1,82 Meter kollabierte er, nachdem er zwei Wochen nur Cola light getrunken hatte. „Ich habe gedacht es ist toll, dünn zu sein. Jetzt weiß ich: Es ist grauenvoll.“
Nach dem Zusammenbruch begann Christian zum ersten Mal für sich zu kämpfen: Er wollte in die erste deutsche WG für essgestörte Männer von Anad ziehen. „Ich habe die Krankenkasse terrorisieren müssen, damit ich den Wohnzuschuss bekam. Sie sträubten sich, Magersucht bei Männern anzuerkennen.“
Eine laufende Nährwerttabelle
Während Christian auf den Bescheid wartete, kam die Sucht zurück. Einen Tag stopfte er Plundergebäck in sich, dann trieb er wieder Sport, fastete. „Die Spirale ging weiter. Oft war ich zu schwach zum Laufen.“ Schließlich konnte Christian zu Anad, blieb sechs Monate. Seit einem Jahr lebt er alleine. Essen ist für ihn reiner Zweck zum Überleben geblieben. „Genuss gibt es nicht mehr. Beim Einkaufen suche ich die Verpackung immer noch nach Kalorienangaben ab. Ich bin eine laufende Nährwerttabelle.“
Doch er weiß, einen Rückfall kann er sich nicht mehr leisten. „Dafür ist mein Körper zu schwach. Ich habe bereits Osteoporose und einen Leberschaden.“ Was bleibt, ist der Kampf gegen den eigenen Körper. „Ich bin weit entfernt von einem normalen Leben. Gute Tage, an denen ich einfach loslebe, gibt es nicht mehr.“
Beratung bei Essstörung:
Anad Tel. 089/21 99 730 oder www.anadpathways. de; Dick & Dünn Tel. 0911/471 711 oder www.fen-net.de
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