Alles kommt wieder hoch
Der Mann, der seine Tochter 24 Jahre lang einsperrte und missbrauchte, steht wegen Mordes und Sklaverei vor Gericht.
Geh schau", sagt die Frau, jetzt samma weltweit bekannt." Sie passiert das eiserne Tor mit dem gelben Zahlenschloss und demSchild „Polizei - betreten verboten". Dahinter, das wissen alle, ist der Grund, warum der Ort weltbekannt ist. „Das" sagt sie in ihrem weichen niederösterreichischen Akzent, „hätt überall sein können, ned bloß hier in Amstetten“.
Amstetten, das ist globales Synonym für den Kriminalfall des Josef F., die ungeheuerliche Horrorsaga des schrecklichen Familienvaters, der seine viertgeborene Tochter 24 Jahre lang eingesperrt hat, im Keller, hier unter dem Grundstück hinter dem Tor. Er hat sie vergewaltigt, wie es ihm passte. Eingekerkert wie ein Tier. Sieben Kinder hat er seiner Tochter da unten gemacht, eines ist gestorben, drei schleuste er in seine „normale“ Familie über der Erde. Die Tochter, 42 ist sie mittlerweile, lebte mit drei ihrer Kinder in einem 40 Quadratmeter großen Keller – ohne Tageslicht, ohne Himmel, ohne Wetter. Fast elf Monate ist es her, da flog die Sache auf, und seit diesem Tag ist Amstetten Ort der Schande, die eine ganze Nation im Mark erschüttert.
„Es gibt keinen Fall Amstetten", es gibt nichts typisch Österreichisches am Fall F. Zu dieser Klarstellung fühlte sich immerhin der damalige Bundeskanzler Alfred Gusenbauer bemüßigt. Wenige Monate, nachdem das Entführungsopfer Natascha Kampusch nach acht Jahren aus einem Keller und den Fängen ihres Peinigers befreit wurde, passte Amstetten zu gut ins Bild.
Phantomschmerzen vergangener Größe
Man kann sich nicht so einfach distanzieren, nicht in einem kleinen Land, das noch immer unter Phantomschmerzen vergangener Größe leidet, nicht in einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt, und nicht heute, wo der Prozess gegen den Täter unmittelbar bevorsteht.
„Du hast ihn doch gekannt" ruft die Dame am Haus des Täters ihrem Mann nach, der vorausgegangen ist. Ja, sagt er: „Als Bua war ma ab und zu beinander." Und wie war er so? „Wie alle", sagt er: „Mir warn alle nicht brav.“ Nein, um Gottes Willen, ihre Namen wollen die beiden nicht nennen. Hat sich ihr Leben seit dem Fall verändert in Amstetten? „Na wieso, was können mir für den Blödsinn, den der gemacht hat?“
Nun, ein bisschen auseinander entwickelt haben sie sich schon, der Passant mit der Goldrandbrille und F., der am Montag vor Gericht steht: wegen Mordes, wegen Vergewaltigung, wegen Blutschande und - eine österreichische Besonderheit - wegen Sklavenhandel nach §104. Wenn die acht Geschworenen überzeugt sind, dann bekommt der 73-Jährige lebenslänglich, weil er den Tod eines seiner Kellerkinder billigend in Kauf genommen haben soll. Die Leiche verbrannte er in seinem Ofen. Ein Horror ist das für die schmucke Kleinstadt im Mostviertel. Alles soll wieder gut werden, und: Nein! „Der Bürgermeister und die Bediensteten der Stadt haben sich entschlossen, überhaupt keine Interviews zu geben." So steht es in einer „Presseaussendung", mit der die Stadtväter die Wiederholung der traumatischen Erlebnissen vom vergangenen April vermeiden möchten. Im gleichen Schreiben verweist man auf den zweiten Platz im landesweiten Wettbewerb um die energiebewussteste Gemeinde Österreichs. Es liest sich wie eine Übersprungshandlung, Die Stadt spielt eine Art Hypernormalität vor. Schier manisch weist sie Wege aus, Wanderwege, Joggingstrecken, Weinradlrouten, Erlebnispfade. So als wolle sie ablenken davon, was hier alle interessiert in den Tagen vor dem Prozess des Jahrhunderts.
Wer untergeht, ist Mensch, wer schwimmt, ist Hexe
Aber es nutzt nichts. Auf dem Lehrweg „Wasserleben", der sich löblich mit Kreislauf, Nutzen und Wirken des Wassers beschäftigt, findet sich ein Hinweisschild mit der Belehrung, dass man „im Mittelalter Hexen im Wasser übel mitgespielt" habe. Eine feine Formulierung für den Umstand, dass man die Unglücklichen in den Fluss warf, um sie dem Test zu unterwerfen: Wer untergeht, ist Mensch, wer oben schwimmt, ist Hexe, also reif für den Scheiterhaufen.
Spätestens da ist der Vergleich mit der Barbarei von F. wieder da. Der Mann, der zum Haarimplantieren nach Ungarn fuhr und zum Verwöhnurlaub nach Thailand, der gelernte Ingenieur, der angeblich eigenhändig ein Verlies ausbaggerte, von der eigenen Frau unbemerkt. Und der seiner Tochter weismachte, die Tür zur Freiheit sei mit Sprengfallen gesichert. Erst als die älteste Tochter der erzwungenen Beziehung 19-jährig ernsthaft erkrankte und er sie ins Krankenhaus brachte, flog die Sache auf.
Es stimmt übrigens nicht, dass die Gefangenen keine Jahreszeiten mitbekamen in ihrem High-Tech-Verlies. Im Sommer heizte sich der Keller unerträglich auf, notierte die Tochter in ihrem Tagebuch, Kondenswasser rann die gefliesten Wände hinab, alle Insassen waren froh, wenn die warme Jahreszeit vorbei war.
„Das war doch alles letztes Jahr", sagt Pfarrer Peter Sandberger von der Gemeinde Herz Jesus Christus, der zum Fall F. „gar nix mehr sagen" will. Und dann doch: „Gottseidank war das in der Nachbar-Pfarre, nicht bei uns.“
Schreie, die nicht zu überhören sein konnten
Und es stimmt ja auch. Er hat das Verbrechen nicht begangen, nicht einmal sträflich weggeschaut haben die Amstettener, wie in so vielen anderen Fällen, von misshandelten Kindern hier in Deutschland, deren Schreie eigentlich nicht zu überhören sein konnten.
Und dennoch bleibt dieses Unbehagen, das sich auch in der Hyperaktivität der musterbraven Gemeinde zeigt. Dieser beunruhigende Gedanke, dass unter all dem Wohlwollen das Streben nach einem höheren Besseren vergebens sein könnte. Wer ahnen will, was unter Dächern und Kellern stattfindet an menschlichen Dramen, der unterhalte sich mit Fachleuten zum Thema häusliche Pflege. Und wer will schon die Hand ins Feuer legen für den Nachbarn, dass der keine Leichen im Keller hat. Und: Wollen wir das so genau wissen? F. hat es uns leicht gemacht, weil sein Verbrechen so monströs ist, und – bisher – so einzigartig.
Unten, in der Unterführung des Bahnhofs von Amstetten, hängt ein handgemaltes Plakat mit einen Zitat von Peter Turrini: „In Wahrheit werden wir nicht so schnell an den Ozonlöchern sterben wie an den Arschlöchern", sagt der Schriftsteller, „also an den Menschen, denen der Mitmensch gleichgültig ist." Passt irgendwie in die Zeit.
Am Portal vor dem Krankenhaus, wo das Jahrhundertverbrechen aufkam, steht Sandra Peyrleitner. „Die Frau F. hatte so eine Kraft“, sagt sie über das Opfer, „ich hoff’, dass sie das jetzt auch noch alles durchsteht.“ Mit ihren Kindern lebt sie in einer anderen Stadt, unter neuem Namen.
Matthias Maus