Zwölf Tote, darunter fünf Kinder: Dieses Drama erschütterte Allach vor 50 Jahren
Allach - Er bekommt die Jacke einfach nicht aus dem Kopf. Die Jacke des Busfahrers. Das erzählt ein alteingesessener Allacher. Dabei ist es heute genau 50 Jahre her, dass er die Jacke gesehen hat. Ein Nahverkehrszug hatte den Bus in Allach erfasst und zerfetzt, Reste klebten an einem Waggon – und an diesen Resten hing noch die Jacke, so erinnert sich der Mann immer noch.
Was am schwarzen 7. März 1975 in München-Allach genau passierte
Die Bilder des Grauens sind sofort wieder allgegenwärtig, wenn man in diesen Tagen mit Allachern spricht, mit jenen, die damals vor Ort waren, aber auch mit jenen, die später geboren sind, aber mit der Erinnerung an diesen schwarzen 7. März 1975 aufgewachsen sind. Im dörflichen Allach kennt fast jeder Familien, die von dem Unglück betroffen waren. Weil so viele Menschen getötet und verletzt wurden. Weil auch die Freiwillige Feuerwehr aus dem Viertel vor Ort war. Weil so viele nebenan bei Krauss-Maffei arbeiteten. Oder auch, weil die Angst an dem Bahnübergang in den Jahren vor und erst recht in den Jahren nach dem Unglück so präsent war.

An jenem 7. März 1975 war der Nahverkehrszug München-Ingolstadt ausnahmsweise im Hauptbahnhof statt in Starnberg bereitgestellt worden. Er war deshalb verspätet - und wurde von einem Prüfling gesteuert, der an jenem Tag seinen Lokführerschein machen sollte. Schrankenwärter Josef V. (33) tat an diesem Morgen im Bahnstellwerk an der Krauss-Maffei-Straße seinen Dienst. Um 7.12 Uhr wurde ihm die S2 Dachau-München gemeldet, ebenso der entgegenkommende Nahverkehrszug. Die S-Bahn kam wie angekündigt, der Zug nicht, weil er nicht pünktlich war. Als der Schrankenwärter um 7.16 Uhr die Schranke wieder öffnet, ist der Zug 500 Meter entfernt und mit 120 Stundenkilometern unterwegs.
Fatalerweise nähert sich ein Linienbus dem Bahnübergang, in dem auch Kinder auf dem Weg zur Hauptschule Ludwigsfeld sitzen. Um 7.17 Uhr erkennt Lehrlokführer Ludwig Kraft (53), dass sich eine Katastrophe anbahnt. Er schreit: "Brems doch, Bua! Um Gottes Willen bremsen!" Der Prüfling leitet sofort eine Vollbremsung ein, doch der Zusammenstoß kann nicht mehr verhindert werden.

Den Helfern bietet sich ein Bild des Grauens. Zehn Menschen sterben direkt vor Ort, zwei noch am selben Tag, unter den Todesopfern sind fünf Schulkinder. Eine Allacher Familie muss gar zwei tote Kinder betrauern.
Unvorstellbar, was Allacher Familien an jenem Tag durchstehen müssen
Es müssen unvorstellbare Stunden sein, die die betroffenen Familien zu erleiden haben. AZ-Reporter beobachten vor Ort, dass Eltern von der Polizei nur mitgeteilt bekommen: "Wenn Sie von Ihrem Kind bis mittags nichts hören, dann müssen wir das Schlimmste befürchten." Ein Vater bekommt von Polizisten die Schultasche seines Kindes übergeben – vom Kind keine Spur.
Viele Familien müssen mittags ins Pathologische Institut der Universität an der Frauenlobstraße, wo die zum Teil grässlich verstümmelten Leichen aufgebahrt sind. Doch in Allach selbst kommt zu dem Schock und zu der großen Trauer auch sehr schnell die Wut. Nicht so sehr auf den Schrankenwärter. Das zeigen die Berichte jener Tage aus dem AZ-Archiv – und es bestätigen auch die alten Allacher, mit denen die AZ zum 50-jährigen Jahrestag gesprochen hat. Denn eine Debatte um diesen gefährlichen Bahnübergang hatte es schon lange gegeben – und die Forderung der Allacher, ihn endlich sicher zu machen. Geplant war eine Unterführung aber erst für das Jahr 1985. Dabei mussten die Schranken bei Krauss-Maffei 234 Mal am Tag geöffnet und wieder geschlossen werden, rechnete die AZ 1975 vor. "234 Mal genügt ein kleiner Fehler des Schrankenwärters und es kommt zur Katastrophe."
Der gebürtige Allacher Josef Tausch, der vielfältig ehrenamtlich im Viertel aktiv ist und zur Zeit des Unglücks 25 war, sagt, es habe schon lange sehr viel Unmut gegeben über diesen Bahnübergang. Es sei "sehr oft" vorgekommen, dass Menschen erst spät und knapp auf der anderen Seite angekommen seien.
Das Drama vom 7. März 1975: Bei der Bahn will man nur "menschliches Versagen" sehen
Die Verantwortlichen bei der Bundesbahn aber wollen nach dem Unglück weiter kein strukturelles Problem sehen, verweisen auf menschliches Versagen und darauf, dass es an dieser Stelle 20 Jahre keinen Unfall mehr gegeben hätte. Doch die Allacher sind wütend. 1500 kommen zu einem Fackelmarsch durchs Viertel, fordern besser gesicherte Übergänge in der Stadt.

Michael Mayr (49), ein anderer Allacher Schrankenwärter, sagt der AZ: "Ich habe Angst. Jeder von uns hat Angst, jedem könnte das passieren." In einem AZ-Kommentar heißt es: "Der Tod fährt viel zu häufig mit." In jenen Jahren gibt es in der Stadt etliche Unfälle mit Toten an Bahnübergängen, etwa am Frankfurter Ring (1972), in Waldperlach (1974) oder in Zorneding (1974).

Keiner dieser Unfälle aber ist so dramatisch wie der 1975 in Allach. Und wohl keiner hat sich so sehr in der Erinnerung eines Viertels eingebrannt. Viele kennen noch die Frau, die ihre zwei Kinder verloren hat. Auch der Busfahrer, der für das Allacher Unternehmen Nowak gefahren war, war bekannt. "Er hatte nie einen Unfall", sagte eines seiner vier Kinder 1975 der AZ.

Auf den Friedhöfen in Allach und Untermenzing gibt es Grabsteine, auf denen zu lesen ist, dass die Verstorbenen bei jenem Unglück ums Leben kamen. Eine Gedenkfeier zum 50. Jahrestag aber gibt es nicht. Und die Bahngleise kann man heute an der Krauss-Maffei-Straße ohnehin nicht mehr queren. Der Übergang wurde, wie so viele andere in der Stadt, später abgeschafft. Aber die alten Allacher, sie werden ihn nie aus dem Kopf bekommen.
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