„Wir wollen unsere Mutter und Oma zurück!“
München - Eigentlich sollte vor zwei Wochen ein neuer Lebensabschnitt für sie alle beginnen. Margot Bleier sollte nach Jahren der Isolation endlich ihre Familie wiedersehen: ihre beiden Söhne, deren Kinder, ihren Enkelsohn. Und auch ihren Hund Jacki.
Dann kam aber alles anders – und die 76 Jahre alte Münchnerin hat das Wochenende in der geschlossenen Psychiatrie verbringen müssen. Ihre Familie konnte nichts dagegen tun, denn die rechtliche Vertretung für Margot Bleier hat jemand anders: ein gesetzlicher Betreuer. Und dieser Betreuer, klagt Sohn Oliver Bleier, hat die demenzkranke Mutter nicht aus der Psychiatrie geholt – obwohl er gekonnt hätte. Einen Grund habe er nicht genannt.
„Ich sorge mich, dass die Tage dort sie kaputtmachen“
Oliver Bleier selbst kann nichts tun. Der behandelnde Arzt hätte ihm versichert, die Mutter könnte am Freitag schon nach Hause, „sie hätte dort nichts verloren, sagte man mir, aus medizinischer Sicht stünde einer Entlassung nichts im Weg, wenn der Betreuer zustimmt“. Doch als er ihn am Freitagvormittag anrief, sagte der: Keine Zeit, sich jetzt zu kümmern. Frühestens Montag. Nun wird sie noch bis mindestens Freitag dortbleiben.
„Ich sorge mich, dass die zusätzlichen Tage dort sie kaputtmachen“, sagt Bleier. „Und dass sie vergisst, dass sie vorhatte, wieder heimzukommen.“
Vor drei Wochen ist der Lebensgefährte seiner Mutter gestorben. Sie hätte in Ruhe trauern sollen, sagt der Sohn. Als er und sein Bruder sie besuchten, stellten sie aber bei ihr einen zu hohen Blutdruck fest und riefen den Arzt. Sie kam ins Krankenhaus – und von dort verschwand sie am selben Tag.
„Sie ist nur spazieren gegangen, das hat sie mir später gesagt“, erklärt Oliver Bleier. Aus Sicht des Krankenhauses war das aber ein Fluchtversuch, sogar die Polizei suchte nach ihr. Deshalb wurde sie auf Empfehlung des Arztes in die Gerontopsychiatrie gebracht, eine geschlossene Abteilung.
Seit Montag voriger Woche ist Margot Bleier nun in dieser Abteilung im Amper-Klinikum. Ihr Sohn hat sie jeden Tag besucht, hat sich Urlaub genommen bei dem IT-Unternehmen, für das er in Regenstauf bei Regensburg arbeitet. „Und da hat sie mir gesagt, dass sie einen großen Fehler gemacht hat.“
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Der Fehler, um den es geht: Sie hat abgelehnt, dass ihre Söhne sie betreuen. Auf Druck ihres Partners habe sie nun gestanden. Der habe ihr unter anderem damit gedroht, sie andernfalls einzusperren.
Seit zwei Jahren weiß die Familie, dass Margot Bleier an Demenz erkrankt ist. Seitdem haben die Söhne mit Nachdruck versucht, mit dem Partner Kontakt aufzunehmen, um über ein gemeinsames Vorgehen zu sprechen. „Er hat unsere Mutter jahrelang vor uns versteckt, sie uns entzogen“, sagt der Sohn. Grund sei gewesen, dass sie unter anderem herausgefunden haben, dass er hohe Schulden hatte und sich ohne eigenen Wohnsitz hinter der Mutter quasi versteckt habe.
Die Söhne stießen eine Betreuungsregelung an, es gab eine Anhörung vor Gericht. „Der Richter hat gefragt: ,Wollen Sie, dass Ihre Söhne die Betreuung für Sie übernehmen?’ Und sie hat gesagt: ,Nein’.“ Als Bleier das erzählt, wird seine Stimme leise. Von ihrem Partner wolle sie sich betreuen lassen, sagte seine Mutter damals. Der lehnte aber ab. So kam im September der Betreuer ins Spiel.
„Mit dem neuen Wissen muss man die Betreuungsumstände doch anpassen“, sagt Bleier. „Da wünscht man sich als Angehöriger mehr Fingerspitzengefühl bei den Gerichten.“ Die Familie sei vorbereitet darauf, Margot Bleier aufzunehmen, hat eine 24-Stunden-Betreuung für sie geplant, ein Platz in einem Demenzheim bei Landshut ist beantragt. „Sie kann sich eine professionelle Komplettbetreuung in ihrer eigenen Wohnung leisten, bis ein Heim notwendig ist“, sagt Bleier. Davon hätten am Freitag aber weder der Betreuer noch das zuständige Amtsgericht etwas hören wollen.
Auf AZ-Anfrage berief sich Betreuer Joachim B. auf seine Schweigepflicht. Margot Bleier bezahlt ihren Betreuer von ihrer Rente. Berufsbetreuer werden pauschal bezahlt für eine bestimmte Stundenzahl pro Patient – regulär bei einem Stundensatz zwischen 27 und 44 Euro. Arbeit, die über die Pauschalzeit hinausgeht, wird nicht mehr vergütet.
„Wir wollen uns selbst um unsere Mutter kümmern“, sagt Bleier. „In einer Psychiatrie hat sie nichts verloren. Aber Demenz bedeutet in Deutschland immer noch oft: wegsperren.“
Er fühlt sich machtlos gegenüber diesen großen Organisationen. „Wenn man einmal in diese Mühle gekommen ist als kranker Mensch, gibt es wenig Möglichkeiten, wieder herauszukommen. Und das kostet alles wertvolle Lebenszeit.“
Die beiden Söhne überprüfen jetzt mit einem Anwalt das Betreuungsverfahren noch einmal. Oliver Bleier will kämpfen: „Wir wollen unsere Mutter und die Oma zurückhaben!“
Demenz: Jeder 4. über 85 betroffen
Nach Schätzungen gibt es in Deutschland etwa 1,6 Millionen Demenzkranke. Bei den 85- bis 89-Jährigen leidet jeder Vierte an Demenz. Bei der Krankheit kommt es zum Verlust von geistigen Funktionen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Zahl der Betroffenen in den nächsten Jahrzehnten dramatisch steigen wird – in den nächsten 25 Jahren um eine Million allein in Deutschland.
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