Wiedervereinigung: Wie aus Ostdeutschen Münchner wurden
Vor 25 Jahren wurde aus Ost und West wieder eins. Klar, dass auch in München viele Ostdeutsche ihr Glück gefunden haben. Die AZ hat mit einigen gesprochen.
München – "Es gibt noch ein Ost-West- Denken". Das sagt der gebürtige Zwickauer Andreas Bittner. Seit beinahe 20 Jahren lebt er in München.
Die AZ hat mit Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, mal besprochen, wie „Ossi“ unsere Stadt ist.
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Hinter der Mauer? Nie wieder!
An den Tag, an dem die Mauer gefallen ist, kann sich der 45-jährige Andreas Bittner, gebürtig aus Zwickau, noch ganz genau erinnern: „Ich war damals 19 und bei der Armee. Dort hatten wir ein Fernsehzimmer. Auf unserem Gerät konnte man auch Westfernsehen empfangen – was natürlich eigentlich streng verboten war. Zwei aus unserer Kaserne verfolgten die Nachrichten, liefen durchs ganze Haus und riefen: ,Die Mauer ist auf!’“ Klar, dass sich dann die ganze Kaserne vor den Fernseher drängte, um es mit eigenen Augen zu sehen.
Als die DDR zusammenbrach, wurden viele Arbeiter im Osten schubweise entlassen – so auch der gelernte Mess-und Regelmechaniker, wie sein Beruf damals hieß. Er versuchte, im Osten Fuß zu fassen, „aber damals ging ja alles komplett drunter und drüber. Es dauerte, bis die Strukturen gewachsen waren“, erzählt Bittner. Also entschied er sich für den Westen. Er arbeitete als Montagearbeiter überall, von Flensburg bis zum Bodensee – und kam 1997 nach München. Jetzt ist er Systemadminstrator in einem TU Labor.
„Meine Frau wollte gerne nach München ziehen, die Wohnungssuche gestaltete sich damals schon schwierig. Wir hatten eine Wohnung in Poing zugesichert bekommen. Zwei Tage, bevor wir umzogen, bekamen wir eine Absage.“
Freunde aus München halfen ihnen. Bittners Sohn ist aber noch ein gebürtiger Sachse – auch, wenn man davon nach Meinung seines Vaters nicht viel merkt. „In meiner Generation gibt es durchaus noch ein Ost-West-Denken, ich glaube aber, dass es sich bei unseren Kindern schon mehr angleicht. Für uns war die Familie immer das wichtigste, mein Sohn ist schon eher auf ,westliche’ Werte wie Individualität bedacht.“
Nur ein Deutschland gibt es für Andreas Bittner aber sowieso nicht: „Unterschiede zwischen Ost und West wird es immer geben, genauso wie zwischen Nord und Süd. Jede Region hat ihre Eigenheiten, ihren Dialekt – und das ist auch gut so. Wir müssen ja keinen Einheitsbrei haben!“, sagt er lachend.
Ost-West-Liebe
Er nennt sie „Hase“, sie nennt ihn „Hamster“: Hans Marek (46) heiratete vor neun Jahren Kerstin aus Mecklenburg-Vorpommern. Die 51-Jährige arbeitet in München in Hauptbahnhof-Nähe. Bei dem bayerischen Maurermeister und der Bauingenieurin aus dem Osten funkte es auf einer Studienreise in Istanbul.
Kerstin Marek: „Ich habe sofort gesehen, dass Hans aus Bayern ist. Mitten in Istanbul trug er ein peppiges blau-weiß-kariertes Trachtenhemd mit Hirschhornknöpfen. Das fand ich süß. Typisch bayerisch an ihm ist, dass er eine wahnsinnige Ruhe hat. Und als Handwerker ist er Gold.
Als Paar würde ich uns nie in eine Ossi-Wessi Schublade stecken, denn wir haben sehr ähnliche Werte. Ich finde: In München leben genauso primitive, hochintelligente und liebenswerte Leute wie in Rostock oder Schwerin. Ich bin aber neugieriger als viele Wessis. Mein Mann nennt mich deshalb: meine Schlaue aus dem Osten. Mit dem Gag ,Ich dachte, ich spare mir den Soli, wenn ich Entwicklungshilfe leiste und eine Frau aus Meck-Pomm heirate’ brachte er früher unsere Bekannten oft zum Schmunzeln.
Hans Marek sagt: „Was für ein Glück, seinen Partner fürs Leben zu finden! Wäre die Mauer nicht gefallen, hätten wir uns bestimmt nicht verliebt. Gleichberechtigung war in der DDR normal. Kerstin hat in München einen Job in einer Männerdomäne. Das finde ich riesig.“
Typisch DDR findet er ihren Konsumverzicht: „Solange der alte Fernseher noch läuft, wird bei uns kein neuer gekauft. Kerstin ändert auch mal alte Kleidungstücke um und wirft fast nichts weg – das ist mir sehr sympathisch.“
„Mit Bairisch habe ich immer noch Probleme“
Geboren ist Sabine Schellnock (34) im sächsischen Schwepnitz, etwa zwölf Kilometer von der Lessingstadt Kamenz entfernt. Dort absolvierte sie ihre Ausbildung zur Zahnarzthelferin.
Mit gerade neun Jahren bekam sie 1989 von der Wende noch nicht viel mit – aber als es plötzlich West-Süßigkeiten zu kaufen gab, war sie begeistert: „Besonders die erste Milka-Schokolade war ein Traum!“ Auch heute würde sie noch in ihrem Heimatort arbeiten, sagt sie. In den Westen zog sie die Liebe. Weil ihr Freund eine Stelle in München fand und es ihr nicht mehr reichte, ihn nur einmal in der Woche zu sehen, zog sie 2005 nach.
„Ich wurde sehr herzlich aufgenommen. Natürlich haben am Anfang viele meinen Dialekt gehört und gefragt: ,Na, Sie kommen doch aus dem Osten, oder?’ Wenn ich ihnen dann erzählte, dass ich aus der Nähe von Dresden stamme – Kamenz kennen die meisten ja nicht –, waren sie immer total begeistert.“ Mittlerweile hat sie sich auch an Münchnerisch gewöhnt, mit Bairisch hat sie immer noch so ihre Probleme. Ihr Fazit nach 25 Jahren Bundesrepublik lautet ganz klar: „Ja, wir sind ein Deutschland!“
„Du kannst Münchner werden, aber...“
Lutz Bradatsch (51) kommt ursprünglich aus der Nähe von Magdeburg. Nach der Wende reizte ihn der Westen als Wohnort eigentlich nicht: „Natürlich wollte man sich das Ganze als Tourist einmal anschauen, aber Ambitionen, in den Westen zu ziehen, hatte ich nicht. Als ich mein Ingenieursstudium 1992 abgeschlossen hatte, war ja auch der Osten Bundesrepublik.“
Als ein Jobangebot aus München kommt, zieht er doch um. „Man hat mich sehr positiv empfangen, schließlich war ich weder der erste noch der letzte Ostler, der in den Westen ging.“ Die Fronten waren trotzdem recht schnell geklärt: „Du kannst vielleicht Münchner werden, aber Bayer wirst du nie.’“
Für ihn war das kein Problem, er wollte seine Herkunft nicht verleugnen. Die Deutsche Einheit sieht er als eine Frage der Zeit: „Alle Ostdeutschen ab etwa Mitte Vierzig werden im Herzen wahrscheinlich immer Ostler bleiben. Bei den Jüngeren verwächst es sich zunehmend.“
Den wirtschaftlichen Unterschied werde man noch eine ganze Weile spüren – „aber Willy Brandt hat damals gesagt: ,Es wächst zusammen, was zusammen gehört’. Und ich denke, das wird eintreffen.
„Der Ost-West-Aspekt ist für uns unwichtig“
Boygar Alpaslan (44) aus Thalkirchen und Grit Eickemeyer (45) aus Sachsen sahen sich das erste Mal auf dem Mega-Flohmarkt auf der Theresienwiese. Dann trafen sie sich auf Festen – und natürlich auf der Wiesn, wo Grit sieben Jahre hintereinander im Zelt Herzen und Zigaretten verkaufte.
Seit 18 Jahren sind die Zahnärztin aus Dresden und der Politologe aus München ein Paar. Mit ihren Söhnen Yunus (13) und Ioan (7) leben sie in der Ludwigsvorstadt.
Boygar Alpaslan sagt: „Der Ost-West-Aspekt ist für unsere Beziehung nicht wichtig. Meine Frau könnte eigentlich auch aus Dortmund oder Hamburg sein. Grit betreibt keinerlei Ostkult, wie etwa DDR-Musik hören.
Wenn wir über unsere Jugend sprechen, fällt aber witzigerweise auf, dass sie meine Lieblingssendungen von damals nicht kennt: Pumuckl, Raumschiff Enterprise oder Tom und Jerry. Denn Dresden war eine Region, in der kein Westfernsehen empfangen werden konnte.
Etwas typisch Ostdeutsches in unseren Familienalltag in München? Die Sachsen feiern die Einschulung ihrer Kinder richtig groß. Meine Schwiegereltern kamen dafür extra aus Dresden zu uns – und die Schultüte heißt bei ihnen Zuckertüte.“
Grit Eickemeyer: „Ich komme gut mit den Menschen hier klar, fühle mich in München sehr wohl. Für unsere Familie spielt statt dem Ost-West-Unterschied, eher der kulturelle Aspekt Türkei-Deutschland eine Rolle, denn Boygars Eltern sind aus der Türkei.
Für mich ist Boygar ein echter Lokalpatriot! Sein Stil ist, die bayerische Lederhose mit T-Shirt zu kombinieren. Er ist ein bescheidener, gemütlicher Typ und geht gerne mal in den Biergarten. Die Stadt hat uns beiden so viele tolle Zufälle und Glücksmomente geschenkt.“ Eickemeyers Fazit: „Wir sind beide die vollen Münchner.“
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