Wenn der Job die Seele krank macht
Depressionen und Burn-Out: Immer mehr Münchner sind wegen psychischer Krankheiten arbeitsunfähig. Die Zahl der Frühverrentungen steigt. Den Betroffenen droht ein Leben in Armut
MÜNCHEN Zunehmender Stress im Beruf, die Flucht in Alkohol oder Tabletten und andere seelisch bedingten Erkrankungen führen dazu, dass immer mehr Münchner ihren Job nicht mehr ausüben können. Im vergangenen Jahr ist in unserer Stadt die Zahl der Menschen, die wegen psychischer Probleme ihren Beruf nicht mehr ausüben können, im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozent gestiegen.
In fünf Jahren ist die Zahl der Berufsunfähigen wegen psychischer Erkrankungen damit um ein Viertel gestiegen. Nach Angaben der Techniker Krankenkasse (TKK) sind vier von zehn Frühverrentungen in München psychisch bedingt. Deutschlandweit sind die Zahlen ähnlich – damit hat sich der Anteil derjenigen, die wegen psychischer Probleme nicht mehr arbeiten können, seit 1994 mehr als verdoppelt.
Alarmierend: Diese Personen müssen sich seit der Rentenreform von 2001 auf ein Leben am Rande des Existenzminimums einstellen. Nach den Zahlen der Deutschen Rentenversicherung sind 2010 exakt 937 Münchner wegen psychischer Probleme in Frührente gegangen – davon etwa ein Drittel Männer und zwei Drittel Frauen. Bundesweit und auch in Bayern ist eine psychische Erkrankung damit der häufigste Grund, warum jemand nicht mehr arbeiten kann.
Bei den Diagnosen stehen Depressionen, Burn-Out und andere seelische Störungen an der Spitze. Rund acht Prozent der psychisch bedingten Frührenten in München werden laut TKK gezahlt, weil die Betroffenen von Alkohol, Medikamenten oder Drogen abhängig sind – bei diesen Fällen sind die Männer deutlich überrepräsentiert.
Rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland können in ihrem Job nicht mehr arbeiten und beziehen eine so genannte Erwerbsminderungsrente – und jedes Jahr kommen 180000 hinzu. Das hat der Sozialverband Deutschland errechnet. Auf die meisten dieser Frührentner wartet ein Leben in Armut: Im Jahr 2000 bekam ein Mann noch eine durchschnittliche Erwerbsminderungsrente von 817 Euro im Monat. 2009 waren es nur noch 672 Euro. Die Erwerbsminderungsrente von Frauen sank im gleichen Zeitraum von 629 auf 611 Euro.
Ab etwa 690 Euro haben auch Rentner Anspruch auf Grundsicherung – vor der Hartz-IV-Reform hieß das: Sie sind ein Fall fürs Sozialamt. „Erwerbsminderung ist heute ein Armutsrisiko”, sagt Klaus Michaelis vom Sozialverband Deutschland. Die Ursache habe die Politik mit den Kürzungen 2001 „sehenden Auges gesetzt”. Damals wurden durch eine Renten-Reform die Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente geändert. Außerdem müssen Kranke oder Behinderte Abschläge von mehr als zehn Prozent auf ihre Rente hinnehmen.
Diese Neuregelung betrifft alle, die dieses Jahr 50 Jahre alt geworden oder jünger sind. Für Über-50-Jährige gilt noch die alte, bessere Regelung. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: Im Durchschnitt sind die Menschen, wenn sie zurzeit aus dem Berufsleben ausscheiden müssen, laut Michaelis „etwa 50 Jahre alt” – wer heuer mit 50 Jahren nicht mehr arbeiten kann, den trifft die Neuregelung mit voller Härte. Der Sozialverband fordert höhere Renten für Menschen, die wegen psychischer oder physischer Krankheiten nicht mehr arbeiten können. Die Abschläge sollen zurückgenommen werden, die Rentenberechnung geändert werden – so würden die Frührentner im Schnitt 144 Euro mehr im Monat erhalten.
Damit ist es aber nicht getan: Der Sozialverband und auch die TKK wollen die Ursachen bekämpfen. Ein Gesundheitsprogramm und Reha-Maßnahmen sollen Stress im Job abbauen und Gefährdete so länger in Lohn und Brot halten. „Psychisch Erkrankte frühzeitig zu verrenten, ist nicht immer der richtige Weg”, sagt auch Claudia Fröse, Expertin für betriebliche Gesundheitsförderung bei der TKK in Bayern. „Ein Arbeitsplatz gibt Halt und integriert Betroffene in die Gemeinschaft.”
Sie hält es für wichtiger, Burn-Out oder Sucht entgegenzuwirken. Daher dürften „psychische Erkrankungen in Unternehmen nicht tabuisiert werden” und es sollte über individuelle psychosoziale Beanspruchungen am Arbeitsplatz gesprochen werden. Die Verbesserung der sozialen Situation der Frührentner würde laut Sozialverband fünf Milliarden Euro im Jahr kosten. Das Ministerium von Ursula von der Leyen (CDU) arbeitet zur Zeit an einem Gesetz zur Bekämpfung der Altersarmut – ein Entwurf könnte 2012 vorliegen.
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