Vergewaltigungsopfer erzählt: "Ich wollte einfach nur noch vergessen"

Seit 30 Jahren berät der Frauennotruf bei sexueller Gewalt. Eine Betroffene schildert ihre Geschichte.
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Seit 30 Jahren besteht der Frauennotruf, der Frauen in allen Situationen von Belästigung, Bedrohung und Gewalt zur Seite steht. (Symbolbild)
Seit 30 Jahren besteht der Frauennotruf, der Frauen in allen Situationen von Belästigung, Bedrohung und Gewalt zur Seite steht. (Symbolbild) © IMAGO / Rolf Poss

München - Diese eine Nacht mit 21 begann mit einer Party und endete mit dem Entschluss, nie wieder über die letzten Stunden zu sprechen.

Es klappte, vier Jahre lang, zumindest scheinbar. Dann bekam Natalia Zollitsch eine Depression. Sie begann eine Therapie und fand heraus, warum sie keine nahen Beziehungen mehr zulassen konnte: Niemand sollte sie nach dieser Nacht vor vier Jahren fragen, in der ein Bekannter sie vergewaltigt hatte, in der es sich so anfühlte, als sei ihr Körper von ihrem Geist getrennt und in der Schweigen zu ihrer Überlebensstrategie wurde.

Mit 21 Jahren ist Natalia Zollitsch nach einer Party vergewaltigt worden. Sie sprach Jahre nicht über die Tat. Inzwischen ist sie das Gesicht einer Aufklärungskampagne.
Mit 21 Jahren ist Natalia Zollitsch nach einer Party vergewaltigt worden. Sie sprach Jahre nicht über die Tat. Inzwischen ist sie das Gesicht einer Aufklärungskampagne. © Screenshot

So schildert es Natalia Zollitsch. Sie ist inzwischen 30 Jahre alt und heute kann jeder ein Video im Internet ansehen, in dem sie von der Tat erzählt. Natalia Zollitsch ist ein Gesicht der Kampagne "Speak up", die der Münchner Frauennotruf vergangenes Jahr gestartet hat.

"Ich fühlte mich danach leichter"

Ausgerechnet die Agentur, für die Natalia Zollitsch als Kundenberaterin arbeitet, hatte damals den Zuschlag erhalten, bekannter zu machen, wie groß das Schweigen über sexuelle Gewalt ist: Jede siebte Frau in Deutschland ist von sexueller Gewalt betroffen. Aber jede zweite erzählt davon niemandem - keinem Freund, keinem Therapeuten und erst recht nicht der Polizei. Auch ihre Kollegen wussten nicht, was sie erlebt hatte, sagt Natalia Zollitsch. Bis es bei einem Meeting aus ihr herausplatzte. Danach beschloss sie, selbst Teil der Kampagne zu sein. "Ich fühlte mich danach leichter", sagt Zollitsch. Sie habe einen Weg gefunden, mit der Tat umzugehen: "Ja, ich habe Beschissenes erlebt, aber warum sollte ich mir von so jemandem noch den Rest meines Lebens kaputtmachen lassen?"

Weniger Blaulicht, mehr lange Gespräche

Dass Frauen erst nach Jahren über die Tat sprechen, erlebt Maike Bublitz häufig. Sie ist die Geschäftsführerin des Frauennotrufs, den es mittlerweile seit 30 Jahren gibt. Der Notruf hat wenig mit Sirenen und Blaulicht zu tun - und mehr mit langen Gesprächen. Denn eigentlich ist der Frauennotruf eine Beratungsstelle: Mädchen und Frauen können sich am Telefon oder vor Ort Hilfe holen - wenn sie gerade ganz akut in einer Krise stecken, aber zum Beispiel auch, wenn sie sich auf einen Prozess vorbereiten wollen.

Maike Bublitz.
Maike Bublitz. © privat

400 Schutzsuchende auf diesjähriger Wiesn

In den vergangenen 30 Jahren wurde das Angebot immer weiter ausgebaut. 16 Frauen, Sozialpädagoginnen und Psychologinnen, arbeiten heute in der Beratungsstelle. Der Frauennotruf bietet Schulungen an - zum Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und im Internet. Es gibt Selbstverteidigungskurse für Frauen und Mädchen. Beratung für Ältere, für Frauen mit einer Behinderung, für Frauen mit einem Trauma. Seit 2003 betreibt der Frauennotruf auf der Wiesn einen Schutzraum für Frauen, die belästigt wurden. Im ersten Jahr suchten 29 Frauen Schutz, dieses Jahr seien es über 400 gewesen, sagt Bublitz.

Vision einer gewaltfreien Welt

Trotz aller Angebote und Kampagnen bleibt die Vision von Bublitz und ihren Mitarbeiterinnen noch immer die gleiche: Sich eines Tages arbeitslos zu machen - dann hätten sie ihr Ziel einer gewaltfreien Welt erreicht.

Doch davon ist der Frauennotruf noch weit entfernt. 227 Betroffene hat der Notruf im vergangenen Jahr beraten. Besser sei trotzdem vieles geworden. "Gerade junge Frauen reagieren bei sexuellen Belästigungen viel selbstbewusster", meint Bublitz. Sie glaubt, das sei ein Erfolg der #metoo-Bewegung. Vergewaltigung sei hingegen noch immer ein großes Tabu. Sie schätzt, dass höchstens jede zehnte bis jede 20. Vergewaltigung angezeigt wird.

Erfolg von #metoo

Auch Natalia Zollitsch wandte sich nie an die Polizei. Und dass es den Frauennotruf überhaupt gibt, wusste sie damals gar nicht. Hätte es ihr geholfen? "Mein 21-jähriges Ich wollte sich bloß vergraben und vergessen", sagt sie. "Gleichzeitig war in meinem Kopf verankert, dass ich das doch selbst hätte verhindern müssen. Hätte ich da zum Hörer gegriffen? Wahrscheinlich nicht."

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Frauen geben sich noch immer oft selbst die Schuld an der Tat, sagt Ingrid Reich, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Diese Strukturen zu ändern, sei auch eine Aufgabe des Frauennotrufs - und das seit 1992.


Krisentelefon des Frauennotrufs erreichbar Mo-Fr von 10-13 Uhr und von 15-21 Uhr, Mi von 18-21 Uhr (089 763737).

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  • Der wahre tscharlie am 23.11.2022 16:36 Uhr / Bewertung:

    Ein wichtiger Artikel mit Hinweis auf den Frauennotruf für alle Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung wurden.

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