Sudetendeutsche: Bayerns vierter Stamm

München - In München kannte man sie schon vor dem Ersten Weltkrieg. Ihre Heimat war die Region zwischen Eger und Pilsen, ein schönes Stück Böhmen mit großer Geschichte und berühmten Bädern. Viele ließen sich in München nieder. Sie gründeten hier 1910 eine "Eghalanda Gmoi" und bezogen ein "Deutsches Haus", wo sie die heimatlichen Bräuche pflegten und ihre Lieder sangen, "dau in der Fremd". Jahrzehntelang gediehen die Beziehungen.
Im Januar 1946 rollten die ersten Sonderzüge
"Dann kam der totale Krieg und alles lag danieder", heißt es in einer Chronik der heute wieder in München ansässigen Egerländer Gemeinde. Plötzlich waren sie, die angestammten Mitbürger, unerwünschte Ausländer. Kaum, dass die Tschechen wieder Herren im eigenen Haus waren, begann die Vertreibung.
Im Januar 1946 rollten die ersten Sonderzüge über die Grenzbahnhöfe Hof und Furth im Wald. Wie im Egerland, so galt überall im Sudetenland für die als "Transfer" bezeichnete Abschiebung, dass nicht mehr als 30 bis 50 Kilo Gepäck und 500 Reichsmark mitgenommen werden durften.

Wie die Sudetendeutschen zwangseingewiesen wurden
Das Grenzland Bayern hatte - neben Schleswig-Holstein - die Hauptlast des ganzen europäischen Flüchtlingsstroms zu tragen. Seine Bevölkerung wuchs von rund sieben Millionen vor dem Krieg auf 9.329.000 im August 1948. Diese nie zuvor erlebte Migration machte die Sudetendeutschen - wie Ministerpräsident Hans Ehard 1954 proklamierte - zu "Bayerns viertem Stamm" neben Altbayern, Franken und Schwaben.
Zwangseingewiesen wurden die Sudetendeutschen in enteignete Wohnungen, in Pfarrhäuser oder in Lager, wofür verlassene Baracken von Kriegsgefangenen und Deportierten ebenso in Betracht kamen wie improvisierte Siedlungen, Container und Camps.
In großen Teilen der Bevölkerung mangelte es an Akzeptanz
Es kam zu anhaltenden Konflikten. Trotz des gemeinsamen nationalen Schicksals, trotz aller Appelle von Politikern und Seelsorgern, trotz verwandter Mundart und gleicher Konfession mangelte es in großen Teilen der oberbayerischen Bevölkerung zunächst an Akzeptanz, Toleranz und Solidarität.
Radikale und separatistische Gruppen nutzten solche Stimmung, sie riefen auf Plakaten und Flugblättern zum "Hinauswerfen" der Mitbewerber auf dem Wohnungs-, Ernährungs- und Arbeitsmarkt auf.
Besonders in ländlichen Regionen waren sie recht ungern gesehen, die Fremden, die "Flichtling" , die erst nach einem Bundesgesetz von 1953 offiziell "Heimatvertriebene" hießen. Noch 1950 bejahten 50 Prozent der befragten Bayern die Frage, ob Flüchtlinge in ihrer Gemeinde eine Störung oder Belastung seien, während sich 40 Prozent der Betroffenen sozial deklassiert fühlten.
Ende 1948 existierten in Bayern 2.400 Flüchtlingsbetriebe
Der Historiker Walter Ziegler macht für die "erheblichen Misshelligkeiten" insbesondere Neid und Sorge vor Überfremdung sowie die "hohe Aktivität" der Flüchtlinge verantwortlich. Gerade die Sudetendeutschen konnten sich als tüchtige Handwerker, Facharbeiter und Gewerbetreibende relativ rasch integrieren, gefördert durch Kopfgeld, Soforthilfe oder staatliche Aufbaufinanzierung.
Jedenfalls wird das "Wirtschaftswunder" der frühen 1950er-Jahre zu einem guten Teil der Geschäftigkeit dieser wackeren Leute zugeschrieben. Schon Ende 1948 existierten in Bayern 2.400 Flüchtlingsbetriebe, von denen viele exportierten. Ehemalige Rüstungsbetriebe in Geretsried und Traunreut, besiedelt durch sudetendeutsche Fachleute, entwickelten sich zu blühenden Städten. In Bayerisch-Schwaben entstand und erblühte die Glasstadt Neu-Gablonz.
Berühmte Landsleute trugen zur Versöhnung bei
Auch politisch konnten die Deutschen aus der ehemaligen Tschechoslowakei in Bayern bald beste Plätze besetzen. So wurde das Arbeits- und Sozialministerium ihre Domäne (aus Böhmen stammten die Minister Walter Stain, Hans Schütz und Fritz Pirkl); Johann Böhm wurde später Landtagspräsident; Richard Reitzner, Volkmar Gabert, Peter Glotz und Emil Werner bekleideten hohe Ämter in der SPD.
Kulturellen Einfluss gewannen Vereinigungen mit Namen berühmter Landsleute (Adalbert Stifter, Johannes von Tepl), die früh zur deutsch-tschechischen Versöhnung beitrugen.
Allmählich konnte sich die neue Minderheit Anerkennung in der Gesamtgesellschaft erarbeiten. Und das auch in den Dörfern, längst nicht nur in der Millionenstadt München, wo rund 27.000 Sudetendeutsche "hängengeblieben" sind, darunter fast 10.000 Egerländer.
Zusammenleben wird unbeschönigt im Museum thematisiert
Diese haben im Kreuzbräu ihre "Gmoi" neu gegründet. Eng arbeiten sie mit örtlichen Vereinen zusammen. "Der Erhaltung und Weiterentwicklung der Sudetendeutschen Volksgruppe, ihrer Kultur, der Künste und Wissenschaften dienen, eine Heimstatt mit angemessenen Arbeitsplätzen bieten", das will das 1984 am Isarhochufer bezogene Sudetendeutsche Haus.
Nebenan ist nach jahrelanger Verzögerung das "Sudetendeutsche Museum" entstanden. Auf fünf Etagen veranschaulichen rund 900 Objekte und Filme mit Erklärungen in drei Sprachen die Geschichte der Deutschen in Böhmen, Mähren und Südschlesien. Dokumentiert sind die politischen Ereignisse ebenso wie das Alltagsleben, Brauchtum, Kultur, Handwerk und eine blühende Industrie, die zum Teil nach Bayern gewandert ist. Auch das Zusammenleben mit Tschechen und Juden wird unbeschönigt thematisiert.
"70 Jahre danach konnte das Projekt auf beiden Seiten völlig unvoreingenommen bearbeitet werden," sagt Michael Henker, der Leiter des Planungsstabes, der sich "den Start wirklich anders gewünscht" hätte, wie er der AZ am Donnerstag sagte. Immerhin: Dieses Wochenende ist das Museum für Besucher zugänglich.
Das neue Museum in der Hochstraße 8 ist bis einschließlich Sonntag für Besucher in Gruppen bis zu vier Personen geöffnet, die sich vorab per E-Mail anmelden müssen unter: museum-anmeldung@sudetendeutsche-stiftung.de. Der Eintritt ist bis Ende des Jahres frei.