Wohnanlage in Sendling: Warum kaufte die Stadt nicht?

Die Stadt hätte eine Wohnanlage in Sendling kaufen können. Doch sie hat ihr Vorkaufsrecht nicht genutzt - obwohl der Käufer sich nicht selbst zu verstärktem Mieterschutz verpflichtet hat. Mieter sind verunsichert, die Linke ist sauer.
von  Christina Hertel
Jessica Beck und Martin Bögle haben Angst, dass sie ihre Wohnung verlieren könnten.
Jessica Beck und Martin Bögle haben Angst, dass sie ihre Wohnung verlieren könnten. © Bernd Wackerbauer

Sendling - Wenn Jessica Beck und Martin Bögle aus ihrem Küchenfenster schauen, sehen sie, was ihnen Angst macht: einen Hinterhof, wo mal alte Bäume wuchsen, wo mal ein Haus stand, dessen Fassade gelblich war wie ihre und wo jetzt ein grauer Betonklotz in die Höhe ragt.

Das Gerüst steht noch, die neuen Mieter sind noch nicht eingezogen. Aber schon jetzt ist diese Baustelle für das Paar ein Hinweis auf das, was auf sie zukommen könnte: Abriss, Neubau, Mieten, die sie sich nicht mehr leisten können.

Wohnblock in Sendling wird verkauft, aber Mietshaus unterliegt Erhaltungssatzung 

Als feststand, dass ihr Vermieter den Wohnblock verkaufen möchte, wandten sich Jessica Beck und Martin Bögle an den Bezirksausschuss, sammelten Unterschriften und sprachen mit Stadträten.

Denn die Angst, mit einem neuen Eigentümer ihr Zuhause zu verlieren, hätte die Stadt dem Paar nehmen können: Das Mietshaus liegt in einem Viertel in Sendling, für das die Stadt eine Erhaltungssatzung erließ (siehe Karte). In diesen Gebieten hat die Stadt ein Vorkaufsrecht. Doch in diesem Fall nutzte sie es nicht.

Die gelb markierten Flächen sind Erhaltungssatzungsgebiete.
Die gelb markierten Flächen sind Erhaltungssatzungsgebiete. © Stadt München/Bearb.: anf

Schnäppchen: 59 Wohneinheiten für rund 20 Millionen Euro

Normalerweise müssen Investoren dann eine Abwendungserklärung unterzeichnen. Mit diesem Vertrag verpflichten sich die Käufer unter anderem dazu, Mietwohnungen nicht in Eigentum umzuwandeln, frei werdende Wohnungen nur mit förderberechtigten Mietern, also solchen mit schmalem Geldbeutel, zu belegen und Luxussanierungen zu unterlassen.

In diesem Fall hatte der Käufer, die Versicherungskammer Bayern, gleich doppeltes Glück: Sie weigerte sich, die Abwendungserklärung zu unterschreiben, und bekam dennoch den Zuschlag. Für rund 20 Millionen Euro kaufte sie 59 Wohneinheiten - ein Schnäppchen. Denn der eigentliche Wert liegt 6,5 Prozent über diesem Preis. So geht es aus geheimen Unterlagen hervor, die der AZ vorliegen.

Geldprobleme: Stadt nutzt Vorkaufsrecht nicht

Noch bis vor wenigen Wochen hatten Jessica Beck und Martin Bögle Hoffnung, dass sie künftig ihre Miete an die Stadt zahlen müssen. Denn so vermittelte es ihnen der Chef der SPD im Stadtrat Christian Müller in einer E-Mail.

Warum kam es anders? "Der Stadt steht das Wasser bis zum Hals", sagt Müller. Aufgrund von Corona seien die Steuereinnahmen so eingebrochen, dass es sich die Stadt nicht mehr leisten könne, jedes Vorkaufsrecht zu nutzen. "Wir müssen abwägen." Und die Versicherungskammer Bayern sei immerhin eine Institution des öffentlichen Rechts und kein Immobilienhai, der für Luxussanierungen im großen Stil bekannt sei.

Keine Luxussanierungen geplant? 

Doch Profit will auch die Versicherungskammer machen. Als "Langfristinvestor" sei es wichtig, nachhaltig Renditen zu erzielen, antwortet die Versicherung auf eine Anfrage der AZ.

Die Wohnungen seien dazu gedacht, die Altersvorsorge ihrer Kunden abzusichern. Die Bestandsmieten sollen auf die Versicherung übergehen, Luxussanierungen seien nicht geplant. Warum der Konzern die Abwendungserklärung nicht unterschrieb, beantwortet das Unternehmen allerdings nicht.

Sendlinger Mieter befürchten, dass sie nun bald mehr zahlen müssen

Stadtrat Müller lässt aber durchblicken, dass es der Versicherung vor allem darum gegangen sei, Spielraum bei Neuvermietungen zu haben. "Solche Anpassungen sind auch bei städtischen Wohnungsbaugesellschaften normal", meint Müller. Die Mieter, die heute dort leben, haben aus seiner Sicht nichts zu befürchten. Jessica Beck und Martin Bögle beruhigt das nicht.

Denn selbst, wenn sie bloß ein paar Euro mehr zahlen müssten, könnten sie sich ihre Wohnung nicht mehr leisten, sagen sie. Er arbeitet als Sozialpädagoge, sie als Pflegerin. Becks Gehalt plus das Kindergeld für ihre zwei Töchter gehe schon jetzt für die 1.500 Euro teure Miete drauf.

Die Linke: Stadtrat untergräbt so seine eigene Beschlüsse

Auch die Opposition ist sauer. Stefan Jagel von der Linken findet, die Stadt hätte den Käufer entweder dazu zwingen müssen, die Abwendungserklärung zu unterschreiben oder selbst kaufen müssen.

Ansonsten untergrabe der Stadtrat seine eigenen Beschlüsse. Für Jagel ist die Versicherungskammer ein Investor wie jeder andere. Beispiele findet man dafür schnell: 2019 musste ein Brillengeschäft aus der Theatinerstraße ausziehen. Dort hatte die Versicherungskammer die Miete um 140 Prozent erhöht, wie die AZ damals berichtete.

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