"Hier treffen sich Arzt und Hausmeister"
Schwabing - Der ältere Herr am Tisch nebenan spricht zu mir herüber: „Sie da mit Ihren blauen Augen, ich glaube Sie sind ein richtig netter Mensch und ausschaun tuns wie der Kronzprinz Rupprecht“.
Es ist ein warmer Sommertag im Jahre 2006 und wir sitzen im Kreis der Familie in der Gartenwirtschaft zum Mittagessen. So beginnt ein unvergessliches Gespräch.
Der Mann mit der blauen Prinz-Heinrich-Mütze ist Carlomaria Grassinger, er und seine Frau Ingrid betreiben eine kleine Druckerei in der Hans-Sachs-Straße. Dort werden meine Frau und ich die beiden einige Tage später besuchen und tauchen ein in ein Leben, so wie es symptomatisch ist für viele kleine Gewerbetreibende.
Die Grassingers sind begnadete Graphiker, Auszeichnungen für meisterhafte Arbeit bis hin vom schwedischen Königshaus hängen an der Wand. Aber der Zeitgeist, der meint es nicht gut mit Leuten wie den Grassingers.
Wer will heute noch kunstvoll gefertigte Einladungen oder Visitenkarten, ist es doch so einfach, sich irgendwelches mehr oder weniger Geschmackloses am Computer zurechtzubasteln?
Solche Menschen trifft man bei der Wilma, so ist der Name der Wirtin, aber auch andere. Angestellte und Beamte aus den in der Nähe gelegenen Behörden, Ärzte und Lehrer trinken hier ihr Bier, bestellen sich ein Schnitzel.
Bei der Wilma ist vieles anders als in anderen Biergärten und Gartenwirtschafen. Hier scrollt niemand auf seinem Ipad, hier schaut keiner in sein Iphone oder unterhält die Umgebung mit seinen Handy-Gesprächen, hier wird mit dem noch Fremden am Nachbartisch geplaudert.
Ja, bei der Wilma ist vieles anders, die Halbe Fassbier kostet 2,70 Euro und am Mittwoch gibt es ab 17 Uhr den Schweinsbraten für 4,80 Euro. Die eigene Brotzeit darf man nicht mitbringen, das ist auch nicht nötig, denn die Essensauswahl ist riesig und die Preise sind genau das Gegenteil.
Beim Carlo haben wir noch einige Male in der Werkstatt vorbeigeschaut, immer öfter war er nicht da, seine Ingrid hat uns erzählt, dass er gar nicht mehr so gut beieinander ist. Bei der Wilma haben wir ihn dann auch nicht mehr gesehen. Am 21. Dezember 2011 las ich in der Abendzeitung, dass die Aktion „Münchner helfen“ dem Carlo eine ordentliche Urnenbestattung ausrichten will. Am 11. Januar 2012 stehe ich mit wenigen Trauergästen an seinem Grab am Westfriedhof. Seine Ingrid konnte es finanziell nicht mehr stemmen, ihm eine angemessene Beerdigung zu ermöglichen, Handwerkerschicksal. Der Druckerladen war lange Zeit geschlossen, nun zieht ein sogenanntes Männerlabel dort ein.
Der Carlo sitzt nicht mehr bei der Wilma im Garten, der Zeitgeist muss weiterhin draußen bleiben.