Bericht aus der Flüchtlingsunterkunft in Riem: "Es gibt zwei Stockwerke. Unten ist die Hölle los"
Anmerkung der Redaktion: Nach nochmaliger Prüfung sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass in dem Text einzelne Passagen enthalten sind, die wir nicht unkommentiert veröffentlichen wollen. Wir haben die entsprechenden Passagen daher aus dem Protokoll entfernt und werden das Ganze intern diskutieren.
Riem - Die Flüchtlinge, die in der Messehalle C6 untergebracht sind, waren zuletzt fast ausschließlich Roma und wenige Sinti (AZ berichtete). Eine gebürtige Russin, die im Auftrag der Stadt vor Ort übersetzt, schreibt für die AZ, wie sie die Situation in Riem erlebt hat. Ihr Name ist der Redaktion bekannt, sie möchte anonym bleiben.
"Wenn wir allen Decken geben, reicht es nicht für die, die noch kommen"
"Geben Sie mir bitte eine Decke!"
"Nein."
"Wir haben keine Decke!"
- Keine Reaktion -
"Ich bin schwanger!"
"Gut, Sie bekommen eine Decke, aber jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe!"
Sofort kommen zehn weitere Frauen hinzu. "Geben Sie mir auch eine Decke!", "Nein!"
Diese Diskussion habe ich bereits mehrmals übersetzt, immer wieder dreht sich alles im Kreis. Anscheinend gibt es in der Messe-Flüchtlingshalle nicht genug Decken. Doch das stimmt nicht - es gibt viele. Aber sie werden sehr ungern ausgegeben. Die Argumentation der Mitarbeiter ist: "Wenn wir allen Decken geben, reicht es nicht für die, die noch kommen."
"Danach schmeißen sie die Decken weg, weil sie dreckig sind"
Wir Dolmetscher verstehen das nicht. Manchmal "entwenden" wir Decken aus dem Materiallager und bringen sie den Frauen heimlich.
Einige Frauen nehmen sie mit in die Werinherstraße (zum Sozialreferat, Anm. d. Red.), sie schlafen dort mehrere Nächte draußen, während sie darauf warten, Sozialleistungen zu erhalten. Danach schmeißen sie die Decken weg, weil sie dreckig sind. Deswegen gibt es jeden Tag Diskussionen um die Decken. Immer das Gleiche.
Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge in der Halle sind Kinder
Die Messe in Riem war zwischenzeitlich die größte Münchner Notunterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine. Im April waren dort fast 2.300 Menschen untergebracht. Als ich zum ersten Mal hierher kam, sagte ein Helfer zu mir: "Es ist gewöhnungsbedürftig". Ja, das ist es. Es gibt zwei Stockwerke. Oben sind die Beamten und unten sind die Flüchtlinge.
"Oben ist es heller, sauberer und ruhiger"
"Unten" ist die Hölle los. Es ist dreckig und es riecht stark nach Toilette. Tag und Nacht brennt Licht. Aus lärmenden Lautsprechern ertönen Aufrufe und Durchsagen. Die Warteschlangen, um Essen in der Kantine zu bekommen, sind sehr lang.

Die meisten in der Halle sind Frauen und mehr als die Hälfte sind Kinder. Gefühlt 99 Prozent sind Roma und Sinti. Nicht-Roma und -Sinti bleiben nicht lange. Ihnen gelingt es meist über Münchner Freiwillige, eine private Unterkunft vermittelt zu bekommen.
"Oben" ist es heller, sauberer und ruhiger. Hier sitzen Polizisten, bei denen sich die Flüchtlinge anmelden, Ärzte für Notfälle und eine soziale Beratung. Erst werden die Flüchtlinge durch die Security gefiltert, danach werden sie auf Corona getestet, erst dann dürfen sie rein.
Seit die Aicher Ambulanz die Hallen an eine andere Organisation übergeben hat, ist es extrem chaotisch geworden, beschweren sich viele Mitarbeiter. Zum Beispiel haben früher Kinder Spielzeug und Kleidung von den gespendeten Sachen bekommen. Jetzt ist "der Laden" geschlossen. Warum, weiß niemand. Dabei ist das Lager voll.
"Wir recherchieren ständig, was wir den Menschen sagen können"
Soziale Beratung, Polizei und Mitarbeiter scheinen nicht wirklich miteinander zu kommunizieren, Informationen sind oft widersprüchlich. Als Dolmetscher soll man nur übersetzen. Doch wir recherchieren ständig, was wir den Menschen sagen können. Sie fragen: "Wo holt man Kleidung?" "Wie geht es mit uns weiter?" "Warum haben wir vier Tage in der Werinherstraße angestanden und nichts bekommen?"
Bald wird es die Notunterkunft in Riem nicht mehr geben. Jeden Tag bringen Busse die Flüchtlinge woanders hin, viele kommen außerhalb Münchens unter. Dolmetscher laufen herum und kündigen an, dass alle umziehen sollen. Viele haben sich in die Buslisten eingetragen, andere warten noch auf Verwandte, viele wollen nicht umziehen. Es kursieren Gerüchte, dass man Menschen aufs "freie Feld" bringen und dort absetzen würde.
"Bitte räumen Sie den Müll weg" sagt eine Mitarbeiterin des "Family Support" zu einer Mutter. "Bitte ziehen Sie dem Kind Schuhe an". Die Mutter macht das. Ich übersetze, es klingt etwas arrogant. Die ungarische Dolmetscherin flüstert mir zu: "Was bringt das? Sie haben eine andere Kultur. Für sie ist es normal, ohne Schuhe zu laufen."
Doch es gibt tatsächlich Kinder, die extrem vernachlässigt sind. Was kann man in diesem Fall machen? Jugendamtsmitarbeiter stehen vor sieben Kindern, die wir füttern und deren schmutzige Kleidung wir wechseln. Die Mutter ist nicht da. Die Mitarbeiter schütteln den Kopf, gehen weiter.
"Irgendwie müssen wir lernen, miteinander zu leben"
Eine Ukrainerin fragt einen Dolmetscher: "Wo kann ich hin, damit ich ohne diese Menschen wohne?" "Wir verstehen Ihr Anliegen", antwortet er. "Wir versuchen, zwei separate Busse zu organisieren." Aber offiziell sei das nicht.
Auch das ist eine Folge dieses Krieges. Er bringt uns alle zusammen: Dolmetscher aus Moskau, Roma aus kleinen ukrainischen Dörfern und Studierte aus Kiew. Und irgendwie müssen wir lernen, miteinander zu leben.
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