So war's damals: Alles tanzt zur großen Glocke

München - Das Programm, mit dem am 16. Januar 1946 eine neue Kleinkunstbühne eröffnete, hieß: „München lernt wieder lachen.“ Stars wie die grelle Berliner Kabarettistin Claire Waldoff, der magere Mime Gert Fröbe, der Tanzgeiger Barnabás von Géczy und der jazzige Spaßvogel Peter Igelhoff sollten die Münchner im „Bunten Würfel“ wieder in Faschingsstimmung bringen.
Doch das wollte nicht recht gelingen, noch nicht. Berge von Problemen lasteten auf der Bürgerschaft.
Am Tag nach der Premiere in Haidhausen musste sich der Stadtrat intensiv mit der Schutträumung befassen – genau ein Jahr zuvor, am ersten Faschingstag, hatte München einen seiner schwersten Luftangriffe erlebt: 505 Tote, 70 000 Obdachlose.
Die 6000 neuen Studenten, früher Stammpublikum des Narrentreibens, wurden zur Schutträumung verpflichtet.
Obendrein galt immer noch die Sperrstunde: Erst ab 1. April 1946 war es Zivilpersonen wieder erlaubt, sich nachts im Freien aufzuhalten. Die wenigen Lokale waren eiskalt, es herrschten starker Frost und extremer Brennstoffmangel. Die Lebensmittelraten waren noch mal auf 1275 Kalorien gekürzt worden.
Sehr ausgelassen feiern ging noch nicht
Und doch standen 1948 immerhin bereits 710 Veranstaltungen im Faschingskalender; die bevorstehende Währungsreform ließ manch einen das alte Geld noch rasch verpulvern.
Jetzt konnte man auch wieder an eine Art Faschingstreiben denken. Sehr ausgelassen konnte das freilich nicht sein, denn der Stadtrat verbot – vielleicht mit Rücksicht auf oder gedrängt durch die US-Militärregierung – jegliches Maskentreiben auf den Straßen sowie das Werfen von Konfetti und Papierschlagen. Amtlich erlaubt waren nur „Juxhüte und Papiermützen“.
So gab es denn statt des traditionellen Umzugs am Faschingssonntag im Circus Krone eine Kundgebung der SPD mit der Forderung, den Landtag aufzulösen, weil über eine Million Flüchtlinge darin nicht vertreten waren. Am Rosenmontag darauf starb – halb verhungert und trotz seines letzten Auftritts im „Bunten Würfel“ fast vergessen – der große Karl Valentin.
Am selben 9. Februar 1948 wurden zwei Münchner durch herabstürzende Ruinenmauern erschlagen, und der „Münchner Merkur“ veranstaltete seinen ersten „Sportlerball“.
Die Abendzeitung rief zum Ball "Die große Glocke"
Die Münchner Presse spielte gleichsam den Prinzen, der den längst entschlafenen Fasching wach küssen sollte. Jedenfalls versuchten die „Müddeutsche Zeitung“, der „Münchner Spaßanzeiger“ und der „Münchner Mucker“, die Stimmung durch mehr oder minder witzige Beiträge zu heben. Besonders verdient machte sich die junge Abendzeitung: Mit einem Ball namens „Die große Glocke“ rief sie zum Tanz auf dem hierzulande seit 1954 erloschenen Vulkan.
Im wieder aufgebauten Regina-Palasthotel wurden die unterirdischen Thermen zu intimen Séparées umfunktioniert und das Schwimmbecken zu einer von mehreren Tanzdielen.
Hier, im Wintergarten und später im Löwenbräukeller ließ die Abendzeitung erstmals 1951, auf dem Höhepunkt des Korea-Krieges, ihre „Große Glocke“ läuten. 1947 hatte Harald Braun in den ausgebrannten Hotel-Mauern den ersten anspruchsvollen Nachkriegsfilm gedreht: „Zwischen Gestern und Morgen“, mit Hildegard Knef, Winnie Markus, Willy Birgel, Viktor de Kowa und Sybille Schmitz, die später den von einer Ärztin gelieferten Drogen zum Opfer fiel.
Jeder dieser Bälle war schnell ausverkauft, erinnert sich der damalige AZ-Redakteur Gerd Thumser, dem die Organisation oblag. Zusammen mit zwei Kollegen trat er beim Debüt in grauem Drillich als Musketier der „Leibgarde Adenauer“ auf, denn in jener Zeit begann auch der Aufbau der Bundeswehr. Für die nächsten Jahrzehnte sollte die „Glocke“ zum Höhepunkt der närrischen Wochen werden und sogar internationalen Ruf erwerben. Immer kamen an die 2500 „notdürftig bekleidete Menschen“, wie die seriöse „Süddeutsche Zeitung“ pikiert beobachtete.
Laya Raki tanzte um Mitternacht
Und immer kamen Prominente auch aus dem Ausland, wie der Tiroler Skistar Toni Sailer und Jean Cocteau aus Paris, denn die „Glocke“ rief zeitgemäß die Existenzialisten.
Der Schweizer Vico Torriani sang in fünf Sprachen. Bis fünf Uhr morgens spielten bis zu sechs berühmte Bands, etwa Max Greger, Hugo Strasser und Roy Etzel, die jeweiligen Modetänze wie Madison, Hully Gully, Bebop, Slop und Twist.
Mitternächtlicher Augenschmaus war der Schönheitstanz der skandalumwitterten Laya Raki.
Die Kostüme waren abenteuerlich, viele ziemlich gewagt. Nic Zeh, Schwabinger von Beruf, prämierte die Allerschönsten, die im Wesentlichen nur eine Maske trugen.
Blasius der Spaziergänger, dem zu Ehren eine Polka komponiert wurde, verriet seinen Lesern, die „Große Glocke“ sei gar nicht von seiner Abendzeitung erfunden worden, sondern von seinem alten Kollegen Schiller, der ja gedichtet hat: „Frisch Gesellen, seid zur Hand ... von der Stirne heiß rinnen muss der Schweiß ... Wehe, wenn sie losgelassen.“
Schon ein Tanz "Wange an Wange" war manchen zu sinnlich
Auch rechnete Blasius nach, dass jeder Besucher nur 37 Pfennige zahle „für ein Stück Star, die kleinen Sternchen und das grüne Garnierungsgemüse gar nicht mitgerechnet“.
Eher mit Missvergnügen erinnert sich der Autor dieser Serie, wie ihm der sittenstrenge AZ-Chefredakteur Rudolf Heizler auf einem dieser drangvollen Feste eine Rüge erteilte, weil er zu eng mit der Kollegin Ingeborg Münzing getanzt haben soll.
Es erging mir also ähnlich wie dem Jungautor Bert Brecht, der im Fasching 1921 auf einem der berühmten Schwabinger Künstlerfeste bei Steinicke mit der Frau seines ersten Brötchengebers Lion Feuchtwanger „Wange an Wange“ tanzte, was andere Gäste laut Tagebuch des BB „zu sinnlich“ fanden.
Vor dem Haus der Kunst waren die Treppen bis zum Morgen voll
Erotische Freizügigkeiten (wie sie Ferdinand von Reznicek so meisterhaft im alten „Simplicissimus“ dargestellt hat) gehörten in jenen Ausnahmezeiten ebenso zum Fasching wie hohe Zechen oder auch ein gewisses „Vorglühen“.
Bei mir wohnte zur Untermiete ein indischer Student der Pharmakologie, der aus Branntwein und allerlei exotischen Mixturen die tollsten Cocktails zauberte.
Danach brauchten wir nicht mehr ganz so viel Geld auszugeben im Haus der Kunst, wo die Treppen mit Pärchen bis zum Morgen voll besetzt waren.
Milde mahnte die „Katholische Aktion“ in einem Aufruf, der „neun goldene Regeln für einen sauberen Fasching“ umfasste: „Wer zu viel schmust, kommt nicht zum Trinken und Tanzen. Die wahre Liebe findet nicht im Saale statt. Auf den Treppen noch viel weniger.“ 1959 drehte Federico Fellini seinen Film „Dolce Vita“.
In Monaco di Baviera wurde das süße Leben schon vorher gespielt. Im Fasching.