Opfer der brutalen Schockanruf-Masche: Eine Münchnerin erzählt
München - Das Erste, das Margarethe T. hört, als sie ans Telefon geht, sind die Worte "Mama, Mama" und dann ein grauenhafter Schrei, der ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken treibt.
"Ich war mir sicher, dass es sich um meine Tochter handelt", erzählt die 77-Jährige. Was die Münchnerin in diesem Moment nicht ahnt: Sie ist Ziel eines Schockanrufs - eine brutale Masche, mit der es Betrügerbanden immer wieder gelingt, große Summen abzukassieren. In der AZ berichtet erstmals ein Opfer ausführlich von seinen Erlebnissen.
"Was ist los? Wo bist du?", ruft Margarethe T. ins Telefon. Doch bevor sie eine Antwort erhält, hört sie, wie man der Anruferin das Telefon aus der Hand reißt. Eine andere Frauenstimme meldet sich in barschem Tonfall. "Ich bin Polizistin", behauptet sie. Im Hintergrund hört man die ganze Zeit über eine Frau herzzerreißend flehen und schluchzen.
Münchnerin steht so unter Druck, dass sie nicht mehr klar denkt
"Nie zuvor im Leben habe ich jemanden so schauderhaft schreien und weinen gehört", erzählt Margarethe T.. Obwohl der Schockanruf schon Tage zurückliegt, spürt man, wie sehr ihr der Horror unter die Haut geht. "Ich war felsenfest davon überzeugt, dass das die Stimme meiner Tochter ist", sagt die 77-Jährige. "Ich war wie vor den Kopf gestoßen, hatte nur noch Panik und machte mir wahnsinnige Sorgen um sie."
Die angebliche Polizistin setzt der 77-Jährigen vom ersten Moment an gnadenlos zu: Die Tochter der Rentnerin sei schuld an einem tödlichen Unfall. Sie habe mit dem Auto in München auf einem Zebrastreifen eine junge Mutter und deren Kind angefahren. Das zweijährige Mädchen sei auf der Stelle tot gewesen, behauptete die Anruferin. Die Mutter des Kindes sei so schwer verletzt, dass sie die Nacht im Krankenhaus nicht überleben werde.
Margarethe T. ist fassungslos. Der Schockanruf wirkt bei ihr genau so, wie es die Betrügerin beabsichtigt hatte. Ihr Opfer, eine Akademikerin aus dem Münchner Süden, ist nicht mehr in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. "Ich hatte zwar schon von Schockanrufen und falschen Polizisten öfter in der Zeitung gelesen", sagt sie. "Ich kenne die Masche und bin aber trotzdem anfangs darauf hereingefallen."
Betrüger fordern 90.000 Euro
Die angebliche Polizistin droht, die Tochter von Margarethe T. müsse ins Gefängnis. Einziger Ausweg sei eine Kaution. Die Rentnerin solle 90.000 Euro bezahlen. "So viel Geld habe ich nicht", antwortet die Münchnerin. Die Anruferin spult routiniert ihr Programm ab, sie erkundigt sich nach Ersparnissen, Schmuck, Gold. Sie fordert Margarethe T. auf, sie solle in ihrer Wohnung zum Safe gehen und nachsehen. "Ich besitze keinen Tresor", sagt die 77-Jährige. "Das war ein Bluff, nur fiel mir das in dem Moment nicht auf."
Die falsche Polizistin erhöht systematisch den Druck. Sie will wissen, wie viel Geld ihr Opfer auftreiben kann. Es müsse alles sehr schnell gehen, sonst komme die Tochter heute noch ins Gefängnis. Um das zu verhindern, soll sich Margarethe T. in ihr Auto setzen und das Geld zur nächstgelegenen Polizeiinspektion bringen, fordert die Anruferin. Die Münchnerin ist völlig überfordert, sie hat keine Ahnung, wo sie die nächste Wache finden kann.
Plötzlich macht die "Polizistin" einen merkwürdig klingenden Vorschlag. Die Rentnerin soll zur nächstgelegenen Kirche fahren und dort einem Mann, angeblich auch ein Polizist, das Geld übergeben. "Das war das erste Mal, dass mir die Sache komisch vorkam", sagt Margarethe T. Ihr Misstrauen ist geweckt.
Die Tochter ist nicht erreichbar, die Panik wird noch größer
Dann kommt der Münchnerin ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Ihr Festnetztelefon ist schon etwas älter, der Akku macht schlapp, die Verbindung bricht ab. "Ich hab mein Handy geholt und versucht, meine Tochter anzurufen", erzählt Margarethe T. Doch es ist wie verhext. Die Tochter ist nicht zu Hause. Die 40-Jährige geht auch nicht ans Handy. Das steigert die Panik der 77-Jährigen noch mehr und bestärkt sie im Glauben, dass ihre Tochter tatsächlich in Schwierigkeiten steckt.
Margarethe T. wählt schließlich den Polizeinotruf, die 110. "Ich wollte doch unbedingt meiner Tochter helfen", sagt sie. In der Einsatzzentrale des Präsidiums erwartet die Rentnerin dann der nächste Schock. Ein Beamter erklärt ihr freundlich, aber unmissverständlich, dass sie an Betrüger geraten und auf dem besten Wege sei, einen Haufen Geld zu verlieren. "Und trotzdem war ich weiterhin fest überzeugt, dass sich meine Tochter in einer Notlage befindet", sagt Margarethe T..
Betrugsopfer: "Ich wusste nicht mehr, wem von den beiden ich trauen kann"
Der Polizist in der Einsatzzentrale verspricht, ihr sofort eine Streife vorbeizuschicken. Die Kollegen kämen mit Blaulicht, in Uniform und würden sich ausweisen, betont der Beamte. "Öffnen Sie niemandem, übergeben Sie niemandem Geld, Schmuck oder andere Wertgegenstände", schärft ihr der Polizist ein. Zur Sicherheit vereinbart er ein geheimes Kennwort, dass die Polizisten bei ihrer Ankunft an der Wohnungstür nennen müssen.
Noch während Margarethe T. per Handy mit der echten Polizei telefoniert, klingelt es wieder am Festnetz. Die Betrügerin ist dran und macht sofort wieder Druck. "Das war eine völlig absurde Situation", erinnert sich Margarethe T. "Beide redeten zeitgleich auf mich ein. Ihr Auftreten war so, wie ich es von Polizisten erwarten würde, ich wusste nicht mehr, wem von den beiden ich trauen kann."
Schließlich beendet Margarethe T. eines der Gespräche, das auf der Festnetzleitung. Keine fünf Minuten später klingelt es an ihrer Wohnungstür und zwei Beamte in Uniform stehen vor ihr. Wenig später erreicht sie endlich ihre Tochter am Telefon: "Hallo Mama, was gibt's", meldet sich die 40-Jährige. "Mir fiel ein Stein vom Herzen", sagt Margarethe T.. Erst jetzt ist sie wirklich davon überzeugt, dass es ihrer Tochter gut geht.
Noch heute wundert sich die Münchnerin, wie sie den Schwindel einfach so glauben konnte. "Ich hab mir Vorwürfe gemacht, mich immer wieder gefragt, wie ich auf diese Masche hereinfallen konnte und nicht sofort aufgelegt habe."
Schaden in Millionenhöhe
Mindestens 25 Millionen Euro haben die gut organisierten Banden mit der Masche "Falscher Polizist" seit 2018 in Bayern erbeutet. Den Betrug übers Telefon organisieren Kriminelle, die meist von Callcentern in der Türkei aus agieren. Die Arbeitsgruppe Phänomene der Münchner Polizei setzt bei der Bekämpfung der Betrugsmasche daher auf eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei.
Im vergangenen Jahr wurden etliche falsche Polizisten in München erwischt. Meist handelte es sich um Kuriere oder Logistiker. Ihnen drohen bei einer Verurteilung mehrjährige Haftstrafen. Die Banden sind deshalb dazu übergegangen, Jugendliche unter 14 Jahren einzusetzen, die sind nach deutschem Recht noch nicht strafmündig. Die Bandenbosse sind dagegen meist fein raus, sie sitzen in Sicherheit im Ausland.
Ende 2020 ließen türkische Polizisten fünf Callcenter der falschen Polizisten hochgehen. Gegen 81 mutmaßliche Betrüger aus der Türkei und aus Deutschland wurde Anklage erhoben. Der Prozess gegen die "Izmir-Bande", der derzeit an der großen Strafkammer des Landgerichts im türkischen Izmir läuft, könnte auch ein paar der Bosse für Jahre hinter Gitter bringen.
Tipps der Polizei bei Betrugsverdacht am Telefon
- Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen.
- Machen Sie keine persönlichen Angaben, vor allem nicht zu Ihrer finanziellen Lage.
- Geben Sie keine Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold oder Ähnliches heraus. Echte Polizisten dürften die Wertsachen nicht annehmen oder fordern.
- Beenden Sie das Telefonat, legen Sie auf und lassen Sie sich nicht weiterverbinden.
- Versuchen Sie, Ihre Verwandten zu erreichen.
- Gehen Sie auf keine Forderungen ein, sondern wählen Sie sofort den Polizeinotruf 110.