Olympia '72 in München: Der Traum von sicheren Spielen
Auf dem Parkplatz des Bayerischen Landeskriminalamts explodiert am 12. Mai 1972 in der Mittagspause eine Autobombe, die sechs Menschen verletzt und 60 Autos beschädigt. Auch im olympischen Ableger Augsburg wird ein bisschen geballert. Racheakte von Versprengten der Terrorbande RAF.
Anarchistische Gruppen demonstrieren im Mai 1972 am Marienplatz
Auf dem Münchner Marienplatz und dem Stachus, den Ballungszentren der soeben eingeweihten Fußgängerzone, demonstrieren anarchistische, maoistische und ähnliche Grüppchen ohnmächtig gegen die preistreibenden, kapitalistischen, imperialistischen oder sonst unliebsamen 20. Olympischen Spiele.
Professionelle Taschendiebe, Schutzgeldkassierer und Dirnen aus aller Welt bereichern das Rotlichtmilieu der kurzfristigen Weltstadt. Groß- und Kleinkriminalität sind noch überschaubar. Die allgemeine Sicherheitslage ist in den wild bewegten Monaten vor der Eröffnungsfeier am 26. August durchaus angespannt.
NOK folgt in Sachen Sicherheit der liberalen "Münchner Linie"
Für den reibungslosen Ablauf und die Sicherheit des Weltspektakels soll zunächst ein "Ordnungsdienst" von rund 1.800 Mann ausreichen. Dieser Service wird schnell aus Sporthundertschaften der Bayerischen Bereitschaftspolizei und des Bundesgrenzschutzes sowie Angehörigen der großen deutschen Sportverbände gebildet. Sie werden in silbern glänzende Uniformen gekleidet. Das Konzept gründet auf einem vom Polizeipräsidenten Manfred Schreiber (noch SPD) vorgelegten Entwurf.

Das Nationale Olympische Komitee (NOK) hat ihn zum "Ordnungsbeauftragten" berufen. Es folgt weitgehend der liberalen "Münchner Linie", die Schreiber seit den Schwabinger Krawallen von 1962 mit seinem - dem studentischen Milieu entstammenden - Polizei-Psychologen entwickelt und verfeinert hat.
Im April 1972 gibt Schreiber bekannt, dass die Gesamtzahl der eingesetzten Polizeibeamten von Stadt, Freistaat und Bund nun 10.500 Personen betragen werde. Deren Aufgabe beschreibt er so: "Aus fertigen Zeit- und Organisationsplänen und überwiegend abgeschlossenen baulichen Gegebenheiten ein Optimum an Sicherheit bei einem Minimum an Einschränkungen herauszuholen."
Sieben Arbeitsgruppen - die jüngste koordiniert den Hubschraubereinsatz - sind seit langem unter Leitung des Sicherheitsbeauftragten Heinrich Martin am Werk, um mit deutscher Gründlichkeit allerlei Generalstabspläne auszutüfteln.
Das NOK entschloss sich, die Ordnungstruppe nicht zu uniformieren, sondern einheitlich in zivile "Anzüge" einzukleiden. Ein helles Blau, wie der Himmel über dem Isartal - so schwebte es Chef-Gestalter Otl Aicher vor - soll alle Bediensteten der Polizei bekleiden.
Nicht mal Schlagstöcke sollten die Ordnungsdienste haben
Natürlich ohne Waffen, nicht mal Schlagstöcke sollen zu sehen sein. Dafür bekommt jeder Blaumann - Frauen werden nur vereinzelt eingesetzt - ein Englisch-Deutsch-Wörterbuch. (In einer noch bis 9. September laufenden Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek steht ein solcher Ordnungsmann im Original-Outfit im Glaskasten).
Keine Spur also von deutschem Drill, bloß keine Erinnerung an Berlin 1936 und die Folgejahre. Der Schutz des Sports und der annähernd 10.000 Athleten soll sich aller Welt ebenso "heiter" präsentieren, wie es das Grundversprechen in allerschönsten Pastellfarben verheißt. So bleibt auch das Olympische Dorf mit seinen schönen, lockeren Etagenhäusern, hängenden Gärten, kleinen Wohnkuben (späteren Studentenbuden) und viel Kunst am Bau so gut wie ungesichert.
"Taktischer Führungsraum" im Münchner Polizeipräsidium
Der zwei Meter hohe Drahtzaun rundum wird Sportler und Gäste eher verbinden als trennen. Vor und während der Spiele wird er oft überstiegen, Wachposten schauen gern weg.
Von deutscher Gründlichkeit, aber auch von einer gewissen Himmelblaugläubigkeit zeugt allein schon das Konzept für den "Polizeiführungsstab", das der - später von Franz Josef Strauß gescholtene - Schutzpolizeichef Georg Wolf vorstellt; es könnte für einen mittleren Feldzug ausreichen. Vom "taktischen Führungsraum" im Münchner Polizeipräsidium aus sollen sämtliche Sicherheitsstreitkräfte befehligt werden.
Im Falle eines Ausrückens steht ein eigener "Befehlsbus" mit Funkausrüstung bereit
Dort wird auch die Lagekarte geführt, Lagevorträge finden laufend statt, zwei Monitore verfolgen über Fernsehaugen ständig das "Einsatzgeschehen" an den Wettkampfstätten. Und, so Wolf: "Über ein Tischfunkgerät kann der Funksprechverkehr auf dem Führungskanal mitgehört werden."
"Lt. Polizeiführer" beigeordnet sind, jeweils dreifach besetzt, ein Chef des Stabes, ein Sachbearbeiter für Taktik, Verbindungsbeamte mit den Kriminal-, Katastrophen-, Verkehrs- und sonstigen Leitzentralen, ein Referent für Öffentlichkeitsarbeit, dazu Funksprecher, Schreiber, Kraftfahrer und Kradmelder.
Für den Fall eines Ausrückens des Polizeiführungsstabes München steht ein eigener "Befehlsbus" mit Funkausrüstung bereit. Der Sachbearbeiter für Verkehrsregelung erhält seine Lageberichte über 31 Fernsehkameras, Funkmeldungen der Außenbeamten und Durchsagen aus dem Polizeihubschrauber.
Da erfahrungsgemäß - so Oberkriminaldirektor Hermann Häring - "auch zahlreiche in- und ausländische Rechtsbrecher aller Schattierungen eine einmalige Chance für ihre dunklen Absichten" wittern, soll die Münchner Kriminalpolizei um 640 auswärtige Kräfte verstärkt werden.
Internes Papier: München könnte ein "Treffpunkt internationaler Gammler und Hippies" werden
Alle Kripo-Führungskräfte müssen sich einer "olympiabedingten Intensiv-Schulung" unterziehen. Häring sieht "ungewohnte Probleme" heraufziehen, er zählt auf: dass Emigrantenorganisationen versuchen würden, sich bemerkbar zu machen, dass Angehörige der Delegationen aus Ostblockländern um Asyl nachsuchen und dass alle möglichen Personen eine Gelegenheit sehen könnten, vor der Weltöffentlichkeit auf ihre Ideen, Forderungen und Ziele aufmerksam zu machen.
Immerhin liege die Bundesrepublik in einem "besonderen Spannungsfeld", meinte Münchens Kripo-Chef. Meldungen in den Medien, wonach wieder mal quasi "fern in der Türkei die Völker aufeinander schlagen" (wie schon Goethes Faust die Bürger ruhig gestellt hatte) sind für die Sicherheitsverantwortlichen der Bundesrepublik Deutschland noch kein Anlass für besondere Vorkehrungen, etwa für Beobachtungen gewisser radikaler Szenen. Frühe Kontakte zwischen der sehr aktiven Palästinensischen Befreiungsfront PLO und Rechtsradikalen einer Gruppe "Großdeutschland" werden erst viel später bekannt.
"Es mehren sich auch die Zeichen, dass München zu einem Treffpunkt internationaler Gammler und Hippies wird," merkt Häring in einem internen Papier an. Auch sieht er zahlreiche Vermisste und Rauschgifthändler voraus. Für den ersten Zugriff will die Kripo auf dem Oberwiesenfeld eine "Olympiawache K" einrichten. Auf dem Sportgelände selbst soll aber außer den Beamten in Zivil keine Polizei eingesetzt werden. Den Ordnungs-dienst versehen schließlich 1.050 Polizeisportler und 400 Objektbewacher, für die eigene lavendelblaue Uniformen geschneidert wurden.
Die Lage rund um die Spiele wirkte sicher – dann kam alles anders
Obendrein sollen noch 15.000 Soldaten für Olympia abkommandiert werden (in Mexiko waren zuletzt 40.000 Mann aufmarschiert). Sie sollen auf dem einstigen Exerziergelände zahlreiche Hilfsdienste leisten, vom Brückenbau bis zum Transport von Sportgerät. Vor allem sollen sie für eine gewisse Ordnung sorgen, nicht unbedingt für Sicherheit. Immerhin könnte die militärische Präsenz den Eindruck verstärken, dass die Verantwortlichen bei den Spielen, so heiter sie sein mögen, alles im Griff haben.
Alle Soldaten werden nur in Uniformen oder uniformähnlichen Arbeitsanzügen antreten. Ihre Autos werden täglich gewaschen, lange Haare und wilde Bärte müssen gestutzt werden. Anfängliche Bedenken wegen der Uniformen sind längst zerstreut. "Bei vielfachen Begegnungen mit Offiziellen und Sportlern der Ostblock-Staaten einschließlich der DDR haben sich keine Probleme ergeben," stellt der Leiter des Arbeitsstabes, Oberst Gerwin Schröder, in einer Medienrunde fest.
So wäre denn alles bereit, um die Olympischen Spiele in München vor Angriffen aller Art zu schützen, doch dann kommt alles anders. Was am 5. September 1972 geschah und was es zur Folge hat, konnte der Reporter hautnah miterleben und vom Stenogramm weg seinen auswärtigen Zeitungen berichten.