Münchner Selbsthilfegruppe: „Ich bin Alkoholiker“
In und um München treffen sich jede Woche rund 1500 Frauen und Männern in 95 Gruppen der Anonymen Alkoholiker. Vor 75 Jahren wurde die erfolgreiche Gemeinschaft in den USA gegründet.
MÜNCHEN Sie wusste genau, wie lange es dauerte, bis sich ihr Mann morgens rasiert hatte. Die paar Minuten reichten, um aus dem Bett in den Keller zu hasten, eine Bierflasche zu öffnen, sie mit einem Zug zur Hälfte zu leeren und wieder nach oben zu rennen. Wenn ihr Mann aus dem Bad kam, lag sie wieder im Bett, tat so, als sei sie gerade aufgewacht. Im Laufe des Tages kamen zu der ersten halben Flasche zwölf weitere. Die heute 57-jährige Angestellte konnte kaum noch das Mittagessen zubereiten für ihre beiden kleinen Kinder, fuhr mit ihnen im Auto betrunken in einen Graben. „Es war die Hölle“, sagt die attraktive, zierliche Frau. Sie nennt sich Gisela. Jahrelang gestand sie sich die Sucht nicht ein. „Es war doch nur ein bisserl Bier, das ist doch Nahrung, redete ich mir ein.“ Erst, als ihr Mann sie aus dem Urlaub nach Hause schickte, wurde ihr klar, dass sie endlich etwas ändern musste.
Auch bei Wolfram (Namen geändert) wurde der Alkoholkonsum zum Zwang. Seine tägliche Ration Bacardi versteckte er im Pilotenkoffer. Er wusste, dass ihn seine Frau nie öffnen würde. 25 Jahre lang hielt er seine Krankheit geheim. Bacardi riecht nicht.
Christian, heute Rentner, fing mit 12 Jahren an zu trinken, weil er sich zu schüchtern fühlte. Mit Alkohol fühlte er sich zunächst freier, lustiger, selbstbewusster. Mit Mitte 20 brach er erstmals körperlich und seelisch zusammen. Es dauerte 30 Jahre, bis er ganz von der Flasche loskam. „Wenn ich heute wieder trinken würde, ich würde es nicht überleben. Man muss sich entscheiden: Sauf und stirb - oder lebe.“
Gisela und Wolfram sind mittlerweile seit 15 Jahren trocken, Christian seit 16 Jahren. Die Anonymen Alkoholiker (AA) haben ihnen entscheidend dabei geholfen. „Anfangs habe ich mich geschämt bis aufs Hemd“, berichtet Gisela. Doch der Erfahrungsaustausch mit anderen Alkoholiker gab ihr Halt und Hoffnung. Ein Motto lautet: Nur du allein kannst es - aber nicht allein.
„Es ist egal, ob du reich oder klug bist und ob du als Straßenkehrer oder Prof arbeitest. Jeder darf ausreden“, berichtet Gisela. Um die Anonymität zu wahren, sprechen sich alle mit dem Vornamen an.
Laut Mechthild Dyckmans, Drogenbeauftragte der Bundesregierung, sind die Anonymen Alkoholiker die weltweit größte und erfolgreichste Selbsthilfegruppe. „Die Gemeinschaft der AA hilft aus scheinbar ausweglosen Situationen hinaus in eine suchtfreie und erfüllte Zukunft.“
Allein in München gibt es 65 AA-Gruppen, weitere 30 haben sich im Umland gegründet. Die Mitglieder treffen sich einmal in der Woche.
Gegründet wurde die Gemeinschaft vor 75 Jahren in den USA von einem Chirurg und einem Börsenmakler. Heute gibt es rund zwei Millionen Anonyme Alkoholiker.
Gisela, Wolfram und Christian haben ihr Leben von Grund auf geändert. Sie bleiben zwar ihr Leben lang Alkoholiker, aber sie haben sich von dem Zwang zu trinken befreit. Gisela sagt: „Mein Leben war dunkel und hoffnungslos. Jetzt ist mein Leben wieder voller Freude.“ Nina Job