Homosexualität: Ein Paragraf verschwindet

Vor genau 20 Jahren wurde der §175 StGB, der so genannte „Schwulen-Paragraf“, gestrichen. Homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen gehen den Staat seither nichts an
von  Gregor Tholl
Ein schwules Paar geht Hand in Hand auf der Straße – heute ist das ganz normal. Noch vor 20 Jahren war das anders.
Ein schwules Paar geht Hand in Hand auf der Straße – heute ist das ganz normal. Noch vor 20 Jahren war das anders. © dpa

Vor genau 20 Jahren, am 11. Juni 1994, wurde der §175 StGB, der so genannte „Schwulen-Paragraf“, gestrichen. Homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen gehen den Staat seither nichts an

München - Im Strafgesetzbuch steht heute: „§ 175 (weggefallen)“. Vor 20 Jahren – zum 11. Juni 1994 – verschwand der so genannte Schwulenparagraf 175 aus dem Gesetz. Der Bundestag hatte ihn am 10.März 1994 gestrichen. Der Paragraf hatte schwule Kontakte lange Zeit generell unter Strafe gestellt und später ein anderes Schutzalter als für Heterosexuelle festgelegt. Der Staat mache mit dem neuen Gesetz deutlich, dass ihn homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nichts angehen.

Seit wann gab es den Paragrafen 175 im StGB? Der Strafrechtsparagraf 175 wurde nach Gründung des Deutschen Reichs 1871 eingeführt und hatte einen Vorläufer im preußischen Staat. Er bedrohte „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern mit bis zu sechs Monaten Gefängnis.

Was passierte bei den Nationalsozialisten mit dem Paragrafen? Bereits ab 1934 wollten die Nazis alle Personen erfassen, „die sich irgendwie homosexuell betätigt haben“. 1935 verschärften die Nazis den Paragrafen. Sie strichen das Adjektiv „widernatürlich“ und definierten vermeintliche „Unzucht“ so, dass schon ein Kuss oder „begehrlicher Blick“ reichen konnte, um Schwule ins Gefängnis zu bringen. Ein zusätzlicher Paragraf 175a bedrohte „schwere Unzucht“ mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren.

Was bedeutete die Verschärfung der Nazis? Während der systematischen Schwulenverfolgung der Nazis wurden mehr als 100 000 Männer polizeilich erfasst und etwa 50 000 nach Paragraf 175 verurteilt. Zwischen 10 000 und 15 000 Homosexuelle wurden in Konzentrationslagern gequält, Tausende ermordet. Im KZ waren die mit „Rosa Winkel“ markierten Schwulen in der Rangordnung oft ganz unten.

Warum war die Verfolgung nach dem Ende der NS-Herrschaft nicht vorbei? Nach 1945 behielt die Bundesrepublik die NS-Fassung des Paragrafen weitgehend unverändert weiter, während die ebenfalls 1949 gegründete DDR zur alten Fassung zurückkehrte. Strafrechtliche Verfolgung gab es also für westdeutsche Schwule bis 1969 weiter, etwa 50 000 Urteile wurden gefällt. In der DDR konnten Schwule meistens unbehelligter leben. Dort verschwand der Paragraf 175 1968 komplett, jegliche strafrechtliche Sonderbehandlung im Jugendschutz 1988.

Wann gab es in der Bundesrepublik Reformen am Paragrafen? Im Zuge des 68er-Reformaufbruchs wurde Homosexualität unter Erwachsenen in der Bundesrepublik 1969 straffrei. Zunächst gab es noch eine doppelte Schutzaltersgrenze. Täter konnte nur ein Mann über 18, Opfer nur ein Mann unter 21 Jahren sein – mit zum Teil absurden Auswirkungen. Ende 1973 wurde diese Regelung verworfen und die Straflosigkeit ab 18 eingeführt. Die Formulierung „Unzucht zwischen Männern“ verschwand und wurde zu „Homosexuelle Handlungen“. Nach wie vor gab es unterschiedliche Schutzalter: Jugendliche besäßen zwar mit 16 die Reife, sich selbstbestimmt für das andere Geschlecht zu entscheiden, jedoch erst mit 18 für das eigene Geschlecht.

Warum verschwand der 175er erst 1994? Der Bundestag hatte nach der Wiedervereinigung 1990 im Zuge der Rechtsangleichung zu entscheiden, ob Paragraf 175 auf die östlichen Bundesländer ausgeweitet werden sollte. In der DDR gab es keine Sondervorschriften für Schwule mehr. 1994, mit Ablauf der Frist für die Angleichung, ließ der Bundestag den Paragrafen wegfallen. Entschädigt sind die in der Bundesrepublik Verurteilten bis heute nicht.

 

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