Franz J. Müller: Das Gedächtnis der Weißen Rose
In den letzten Jahren hat er oft von seinem Tod geträumt. Nicht von dem, der ihm bevorstand. Sondern von dem, dem er im Jahr 1943 nur knapp entging. In diesen Nächten war er wieder 18 Jahre alt. Und dieses Mal töteten sie ihn.
Er sah sich in diesem Traum wieder vor dem Volksgerichtshof stehen. Er hörte den Blutrichter Freisler toben. Diese Stimme, die sich überschlug, die brüllte, die ihn verurteilte. Er traf in diesen Träumen im Gerichtssaal seine Freunde von der Weißen Rose wieder, die zum Tode verurteilt waren: Er sah in Willi Grafs und Alexander Schmorells Gesichter.
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Wenn Franz J. Müller dann von der Guillotine träumte, schreckte er aus dem Schlaf. Irgendwann stand er auf und schaute aus den großen Fenstern seines Schlafzimmers. Er blickte hinüber zu den zum Greifen nahen Baumkronen. Und frühmorgens, wenn Müller aus seinem Albtraum fand, sangen darin die Vögel.
"Sie können mich töten. Aber mehr können Sie nicht tun."
Je älter er wurde, sagte er, desto länger dauerte es, bis er aus dem Traum zurück in die Wirklichkeit gelangte. Seit einiger Zeit endete er immer gleich: "Der Angeklagte Franz J. Müller wird im Namen des deutschen Volkes zum Tode verurteilt."
In der Realität des April 1943 wird der damals 18-Jährige mit fünf Jahren Gefängnis bestraft. Müller, der mit seinem Todesurteil rechnete, sagte zu seinem Richter: "Sie können mich töten. Aber mehr können Sie nicht tun." Bis zu seinem tatsächlichen Tod im Jahr 2015 war dieser Franz J. Müller anders als alle anderen. Mit seiner hochgewachsenen Gestalt, den breiten Schultern und seiner Aura ragte er meist überall heraus – aus einer Masse und aus jedem Maß.
Von Müller ging etwas Erhabenes aus. Zu seinem Lebensende hin ließ er einen mächtigen weißen Vollbart über seine kantigen Züge wachsen. Damit sah er fast wie ein gütiger Großvater aus – und ein bisschen wie ein antiker griechischer Philosoph. Franz J. Müller war einer der letzten Überlebenden aus dem Kreis der Widerstandsgruppe Weiße Rose, verschickte aus seiner Heimatstadt Ulm die berühmten Flugblätter gegen den Terror der Nazis, wurde gefasst und überlebte. Er starb 2015 in München.
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Rückblende: Bei unserem Gespräch vor vier Jahren ist Franz J. Müller 87 Jahre alt, ein immer noch sportlicher Mann. Er wohnt direkt am Englischen Garten in München. Sein schmales Haus wirkt wie ein einziger großer Wintergarten. Aus jedem Raum geht der Blick durch bodentiefe Fenster ins Freie. Müller, der zwei Jahre lang in den Verliesen der Nazis saß, beruhigt diese Aussicht.
Manchmal, sagt Müller, träumt er, wenn er nicht rechtzeitig erwacht, auch Details seiner Hinrichtung. Wie sie ihn fesseln etwa. Er streckt im Gespräch seine Fäuste weit über den Wohnzimmertisch: "Ich träume, dass sie mir die Hände vorn oder hinter den Rücken fesseln." Und er malt sich die Guillotine aus. Wie die Henker seine Freunde festschnallen, einen nach dem anderen. Sophie Scholl zuerst. Müller arbeitete für die Weiße Rose, bis ihn die Wehrmacht im Februar 1943 als Soldat nach Frankreich einzog. Weil jemand unter Folter seinen Namen preisgegeben hatte, ließ ihn die Gestapo dort im März festnehmen. Da waren Hans und Sophie Scholl schon hingerichtet.
Am 19. April stand er vor Freisler im Münchner Justizpalast. Sein Leben lang hat er überlegt, was ihn wohl vor der Todesstrafe bewahrt haben könnte. "Heute glaube ich, dass ich es meiner Mitangeklagten Susanne Hirzel verdanke." Die junge Frau sah gut aus, war blauäugig und trug lange blonde Zöpfe. Freisler sagte zu ihr: "Fräulein Hirzel, wenn ich Sie so vor mir sehe – Sie sind das Urbild eines germanischen Mädchens! Sie können doch von diesem Schmutz gegen unseren Führer nichts gewusst haben!"
"Ich träume, dass sie mir die Hände vorn oder hinter den Rücken fesseln": Müller mit Flugblättern der Weißen Rose. Foto: Dirk Bruniecki
"Ihr könnt doch die Gräber eurer Freunde nicht verlassen!"
Müller erinnert sich: "Freisler war in gewisser Weise gnädig zu ihr. Und so wollte und konnte er vielleicht ihren jüngeren Bruder und mich als dessen Freund nicht zum Tode verurteilen. Für ihn waren wir dann eben ,von Volksfeinden verführte jugendliche Narren’." Es war Freislers Rassismus, der auch dem ebenfalls blonden, blauäugigen und mit 18 Jahren damals noch nicht volljährigen Müller geholfen hatte: "Sie haben ja ein rassisch gutes Aussehen", schrie Freisler, "wie konnten Sie dann gegen den Führer sein? Er hat uns doch alle gerettet!"
Hans Hirzel und Franz Müller wurden zu fünf Jahren Haft verurteilt. "Natürlich war ich in Todesgefahr, aber es hat mich auf seltsame Art nicht sehr belastet. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hatte keine andere Chance. Ich hätte nicht anders können."
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In seiner Zelle betete er. "Angesichts meines Glaubens hätte ich das Ende nicht für ein Übel gehalten", sagt der einstige Ministrant. Als dann im Mai 1945 alles vorbei war, machten die amerikanischen Alliierten ihm und Hans Hirzel das Angebot, nach Amerika zu gehen. Das wollten die beiden Robert Scholl mitteilen, dem Vater von Hans und Sophie, der nach dem Krieg Oberbürgermeister von Ulm wurde. Doch als sie ihm im Rathaus gegenüberstanden, erhob sich dieser Zwei-Meter-Mann von seinem Schreibtisch und sagte: "Ihr bleibet da! Ihr könnt doch die Gräber eurer Freunde nicht verlassen!"
Müller hat sich daran gehalten. Nicht nur zu Jahrestagen steht er auf dem Friedhof am Perlacher Forst in München an den Gräbern von Sophie, Hans, Christoph und Alexander. Es falle ihm nicht schwer, meint Müller. Dabei sagt seine Frau Britta, mit der er seit 46 Jahren verheiratet ist, dass er jedes Mal wieder eine Träne im Auge habe. Und dass er immer wieder diese Last spüre, überlebt zu haben, wo so viele sterben mussten. "Dieses Gefühl hockt in einem drin. Ein Leben lang. Das kriegt man nicht los."
Dann sagt seine Frau: "Franz, du lebst. Es ist alles vorbei"
Nach dem Krieg wollte Franz Müller Jurist werden. Er arbeitete erst als Lehrer und betrieb später eine Keramikfirma. Doch eigentlich war er hauptberuflich und zeitlebens ein Jahrhundertzeuge. 1987 gründete er die Weiße Rose Stiftung, die heute Münchens ehemalige First Lady Hildegard Kronawitter (SPD) leitet, die immer für das Andenken an die Widerstandsgruppe gekämpft hatte. Später schuf Müller auch die "DenkStätte" im Lichthof der Münchner Universität, die gerade umgebaut wird.
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Es ist spät geworden bei unserem Gespräch. Regentropfen trommeln gegen die Fenster seines gläsernen Hauses, in das gerade noch die Frühlingssonne schien. Müller blickt auf die Wanduhr in der Ecke. Die stammt aus seinem Elternhaus. Wenn niemand spricht, hallt ihr Ticken durchs Zimmer und erinnert ihn an mehr als acht lange Lebensjahrzehnte. Und an die Gegenwart der Vergangenheit. Denn auch heute wird Müller wieder seinen Traum vom Fallbeil träumen.
Seit einigen Monaten kommt er jede Nacht. Doch wie immer wird seine Frau Britta da sein, wenn er aufschreckt. Sie wird ihren Arm um ihn legen und sagen: "Franz, du lebst. Es ist alles vorbei."
Entnommen aus dem Buch "Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler. 18 Begegnungen" des ehemaligen AZ-Chefreporters Tim Pröse. Es ist im Heyne-Verlag erschienen (320 Seiten. Gebundene Ausgabe: 19,99 Euro, Kindle- Edition: 15,99 Euro).
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