Interview

Flüchtlingsrat-Experte über Migrationsgipfel: "Politik und Gesellschaft haben es verschlafen"

Bundesinnenministerin Nancy Faeser lädt am Dienstag Kommunen und Landkreise zum Migrationsgipfel ein. Die AZ hat mit Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat über seine Erwartungen und Hoffnungen gesprochen.
| Heidi Geyer
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In einer Turnhalle wurden in Kirchseeon im März ukrainische Flüchtlinge untergebracht. Experten rechnen damit, dass dies auch im kommenden Winter wieder der Fall sein wird.
In einer Turnhalle wurden in Kirchseeon im März ukrainische Flüchtlinge untergebracht. Experten rechnen damit, dass dies auch im kommenden Winter wieder der Fall sein wird. © IMAGO/Wolfgang Maria Weber

AZ-Interview mit Stephan Dünnwald: Der Soziologe arbeitet beim Bayerischen Flüchtlingsrat.

AZ: Herr Dünnwald, die Zuwanderung hat stark zugenommen. Woran liegt das?
STEPHAN DÜNNWALD: Viele Syrer, Afghanen und Iraker kommen über Polen, Belarus oder sogar die Ukraine. Neben dieser Route ist nach wie vor die Balkanroute sehr stark genutzt. Viele Menschen, die nach Nordmazedonien, Serbien oder Ungarn geflüchtet sind, nehmen dann noch den Weg in den Westen in Kauf. Das ist vor allem im Sommer der Fall, im Winter geht das nicht mehr so leicht. Außerdem kommen nach wie vor viele Menschen aus der Ukraine. Zum Teil wandern diese zunächst in Länder wie Polen und wandern dann weiter, weil sie dort keinen Job bekommen und die Leistungen verlieren. Das kann man aber nicht wie Friedrich Merz als Sozialtourismus diffamieren.

Stephan Dünnwald
Stephan Dünnwald © privat

"Stadt und Staat geben sich zu schnell zufrieden"

Was sind Ihre Erwartungen an den Flüchtlingsgipfel, zu dem Nancy Faeser eingeladen hat?
Ich hoffe, dass man versucht, zu einer ordentlichen und konkreten Aufgabenteilung zu kommen und dass nicht nur Alarm geschlagen wird. Wir brauchen jetzt eine Lösung für den Winter und auch ein Weiterdenken. Ein großes Versäumnis ist, dass 2015 und 2016 viele Geflüchtete gekommen sind und zunächst in Turnhallen untergebracht wurden. 2017 und 2018 gab es viele Projekte, um Wohnraum bereitzustellen und zu vermeiden, dass die Geflüchteten isoliert sind. Vieles davon wurde 2019 wieder in die Schublade geworfen. Man hat sich zufrieden gegeben mit der Tatsache, dass sie einfach im Lager sitzen. Allein im Stadtgebiet München sitzen 1.000 Menschen in den städtischen Unterkünften und etwas mehr als 1.000 Menschen in den staatlichen Unterkünften. Diese Menschen könnten seit Jahren ausziehen, bekommen aber zu wenig Unterstützung. Nun kommen neue Flüchtlinge und es heißt: "Huch, jetzt haben wir gar keinen Platz und müssen die Leute in Turnhallen unterbringen." Das haben die Politik und die Gesellschaft verschlafen.

Die Kommunen werfen dem Bund vor, sie alleine zu lassen. Wer ist denn nun schuld?
Es ist Sache der Kommunen, der Landkreise und der Bezirksregierung, Wohnraum zu schaffen. Der Freistaat hat ebenfalls viele Immobilien und Flächen. Allein in München wurden nur wenige Projekte realisiert, wobei das in anderen Kommunen auch so ist. Die Argumentation ist oft, dass man Flüchtlinge nicht gegenüber Alleinerziehenden, Polizisten und Krankenschwestern bevorzugen kann. Jetzt zu jammern und den Bund zu fordern, ist etwas spät. Wir haben doch gerade gesehen, wie katastrophal die Situation der Geflüchteten in Unterkünften während der Corona-Pandemie war.

"Alle Geflüchteten sollten die gleichen Rechte haben"

Haben Sie Sorge, ob angesichts der Wirtschafts- und Energiekrise überhaupt noch die Chance besteht, die Situation zu lösen?
Es wird keine Priorität haben, Geflüchtete noch in Wohnungen unterzubringen. Jetzt wird es eher darum gehen, irgendwo ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Also etwa in Leichtbauhallen oder Turnhallen. Mit dem Effekt, dass Sportvereine dort nicht trainieren können. Das wird wieder viele Leute verärgern. Ich hoffe, es wird Konsens bestehen, dass man das vermeidet. Immerhin stehen keine Wahlen an.

Ist es denn sinnvoll, Flüchtlinge aus der Ukraine anders als Geflüchtete aus anderen Herkunftsländern zu behandeln?
Es ist vertretbar, bei einem Krieg vor der Haustür zu entscheiden, diese Menschen anders zu behandeln, weil sie ja auch in sehr großen Zahlen zu uns kommen. Was wir sehen, ist, dass die Ukrainer eher die besseren Unterkünfte, also näher an Zentren und mit besserer Anbindung an den ÖPNV, bekommen. Man sollte aber die Augen nicht davor verschließen, dass man dem anderen Teil der Geflüchteten genau das vorenthält. Schließlich herrscht bei vielen im Herkunftsland ebenfalls ein Krieg. Warum enthalten wir diesen Menschen das vor, wo wir doch dringend Arbeitskräfte in diesem Land brauchen?

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"Er wurde erst angerufen, als die Abschiebung geplant war"

Vor Kurzem wurde ein Vorfall bekannt, bei dem ein iranischer Flüchtling wohl unter einem Vorwand in ein Amt geladen wurde und dann abgeschoben werden sollte. Ein Einzelfall oder hat das System?
Es passiert häufig, dass Flüchtlinge zu Behördenterminen eingeladen werden, ohne ihnen mitzuteilen, dass es um die Abschiebung geht. Wenn dann kein Flüchtling mehr in die Behörden kommt, weil er Angst hat - damit müssen die Behörden klarkommen. Flüchtlinge unter einem falschen Vorwand ins Amt zu locken, ist hingegen betrügerisch. An dem Fall in Passau war so eklatant, dass der Mann ja wegen einer Arbeitserlaubnis für einen Pflegedienst geladen war. Also für einen Beruf, in dem wir dringend Arbeitskräfte brauchen. Der Antrag lag acht Wochen im Ausländeramt. Aber man hat ihn erst angerufen, als die Abschiebung geplant war.

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