Interview

Experte aus München über Haftbefehl gegen Netanjahu: "Juristisch ist die Lage ziemlich klar"

Der Münchner Professor Daniel-Erasmus Khan erklärt im AZ-Interview, was es mit den Anträgen auf Haftbefehl gegen israelische Politiker und Hamas-Führer auf sich hat – und wie es jetzt weitergehen könnte.
Ralf Müller |
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Dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu könnte eine Verhaftung durch den Internationalen Strafgerichtshof drohen, ein Haftbefehl gegen ihn wie auch gegen die Hamas wurde bereits beantragt.
Dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu könnte eine Verhaftung durch den Internationalen Strafgerichtshof drohen, ein Haftbefehl gegen ihn wie auch gegen die Hamas wurde bereits beantragt. © Ohad Zwigenberg/AP/dpa

AZ: Herr Professor Khan, derzeit wird wegen des Haftbefehl-Antrags gegen israelische Politiker und Hamas-Führer viel über den "Internationalen Gerichtshof" geredet. Was ist das für ein Gericht?
DANIEL ERASMUS-KHAN: In Den Haag existieren zwei Internationale Gerichtshöfe, die sich beide mit dem Thema Israel/Palästina befassen: einerseits der Internationale Gerichtshof, ein klassisches zwischenstaatliches Gericht. Dort hängt derzeit eine Klage von Südafrika gegen Israel wegen der Art und Weise des Vorgehens im Gaza-Streifen an. Andererseits der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Da geht es um klassische strafrechtliche Vorwürfe. Bei diesem Gericht hat der Chefankläger jetzt Haftbefehle gegen Politiker Israels und der Hamas beantragt.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass das Strafgericht diesen Haftbefehlsanträgen folgt?
Die Wahrscheinlichkeit, dass dem Antrag stattgegeben wird, ist sehr hoch. Voraussetzung hierfür ist, dass der "begründete Verdacht" schwerer Straftaten besteht – und die Anklagebehörde begründet dies regelmäßig mit großer Sorgfalt – so offensichtlich auch im vorliegenden Fall. Bisher hat es in der Tat nur einen einzigen Fall gegeben, in dem die Vorverfahrenskammer einem solchen Antrag nicht gefolgt ist.

Glitzernde Glasfassaden, düstere Themen: der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag.
Glitzernde Glasfassaden, düstere Themen: der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. © Peter Dejong/AP/dpa

Inwieweit ist Israel an die Entscheidungen des IStGH gebunden? Regierungschef Benjamin Netanjahu müsste ja wohl nicht ausgeliefert werden.
Israel selbst ist dem IStGH nicht beigetreten, an dessen Entscheidungen also nicht gebunden, und müsste damit seinen Regierungschef nicht ausliefern. Entscheidend ist aber etwas anderes: Im Jahre 2015 ist Palästina dem IStGH beigetreten. Und damit ist die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Aburteilung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Gebiet Palästinas gegeben. Dazu aber zählt, so die Vorverfahrenskammer schon 2019, nicht nur das Westjordanland, sondern auch der Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem.

Haftbefehle gegen Netanjahu und Hamas: Man ist mit großer Sorgfalt vorgegangen

Sind die Haftbefehlsanträge aus Ihrer Sicht auch begründet?
Es gilt wie immer die Unschuldsvermutung wie in jedem ordentlichen Strafverfahren. Beweislage und Indizien sind nicht vollständig offengelegt worden, aber die Stellungnahme des Chefanklägers macht klar, dass mit großer Sorgfalt vorgegangen wurde. Man hat sich auch des Sachverstands einer großen Anzahl internationaler Juristen bedient.

Wie rasch wird das Gericht über die Haftbefehle entscheiden?
In der Vergangenheit hat es mindestens zwei Monate gedauert, bis der Haftbefehl dann kam. Nach Inkraftsetzung des Haftbefehls versucht man, der Täter habhaft zu werden, denn vor dem IStGH gibt es kein Verfahren in Abwesenheit.

Einen solchen Haftbefehl gibt es bereits gegen Wladimir Putin, der jetzt längst nicht mehr hinreisen kann, wo er will. Wie schmerzhaft wäre für einen israelischen Ministerpräsidenten die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit?
Sehr schmerzhaft. Immerhin sind 124 Staaten – darunter auch alle EU-Staaten – dem IStGH beigetreten und danach zur Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet. Und nach Artikel 86 des Römischen Statuts bedeutet das praktisch: Sollte sich einer der Tatverdächtigen – also neben Netanjahu auch der israelische Verteidigungsminister und drei hochrangige Hamas-Vertreter – auf dem Gebiet eines dieser Staaten aufhalten, sind diese zur Auslieferung an den IStGH verpflichtet. In Scheveningen steht ein Untersuchungsgefängnis und dort würden sie dann auf ihren Prozess warten.

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Münchner Professor Daniel-Erasmus Khan: "Das ist für Deutschland natürlich besonders heikel"

Schwer vorstellbar, dass Deutschland einen israelischen Ministerpräsidenten festsetzt...
Das ist für Deutschland natürlich besonders heikel, aber aus dieser rechtlichen Verpflichtung gibt es letztlich kein Entrinnen. Politisch gesehen sollte man Netanjahu daher dringendst von einer Reise auch nach Deutschland abraten. Noch ist es allerdings nicht so weit, denn – wie gesagt – wir müssen noch auf die Entscheidung der Vorverfahrenskammer warten.

Gäbe es für die Bundesrepublik denn irgendwelche juristischen Hintertürchen, damit man um eine Auslieferung in so einem hypothetischen Fall herumkommt? Diplomatische Immunität oder dergleichen?
Das gab es früher. Der große Fortschritt im Völkerrecht besteht darin, dass es eine Immunität für Regierungschefs oder Staatspräsidenten vor dem Weltstrafgericht nicht mehr gibt. Früher galt der Grundsatz "die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen". Das ist nach dem Römischen Statut gerade nicht mehr der Fall. Also auch Putin oder Netanjahu müssten sich verantworten. Wie weit Netanjahu das politisch überlebt, wird man sehen. Dem internationalen Ansehen Israels ist ein nun offenbar kurz bevorstehender Haftbefehl gegen seinen Regierungschef wegen schwerster Verbrechen jedenfalls auch nicht gerade zuträglich.

Südafrika ist Vertragsmitglied des IStGH, aber dort hat man offenbar Hintertüren gefunden...
Mit Billigung der südafrikanischen Regierung hat der sudanesische Staatspräsident Al-Baschir, gegen den ein Haftbefehl bestand, das Land in der Tat fluchtartig verlassen können, kurz bevor ein südafrikanisches Gericht dann seine Festnahme anordnete. Daran sieht man: Die politische und juristische Bewertung sind oft verschieden. Der IStGH hat dann festgestellt, dass Südafrika damit als Mitgliedsstaat des Weltstrafgerichts seine rechtlichen Verpflichtungen verletzt habe. Konsequenzen verhängten die Richter jedoch nicht.

Ist in Deutschland so etwas im Falle Benjamin Netanjahus auch denkbar?
Ich sage Ihnen: Die deutschen Gerichte würden ihn verhaften lassen. Juristisch ist die Lage ziemlich klar. Deutschland gehörte übrigens von Anfang an zu den vehementesten Verfechtern des Strafgerichtshofs und würde sich sehr unglaubwürdig machen, wenn es mit schlechtem Beispiel vorangehen und seine Verpflichtungen nicht erfüllen würde.

Der 62-Jährige Daniel-Erasmus Khan ist an der Bundeswehr-Universität München Professor für öffentliches, Europa- und Völkerrecht. Er war unter anderem mehrmals vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH, nicht Strafgerichtshof) in Den Haag tätig, so etwa für die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsberater ("Adviser") in einem Rechtsstreit mit Liechtenstein.
Der 62-Jährige Daniel-Erasmus Khan ist an der Bundeswehr-Universität München Professor für öffentliches, Europa- und Völkerrecht. Er war unter anderem mehrmals vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH, nicht Strafgerichtshof) in Den Haag tätig, so etwa für die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsberater ("Adviser") in einem Rechtsstreit mit Liechtenstein. © privat

Aus Israel gibt es heftige, aus den USA etwas verhaltenere Kritik am Haftbefehlsantrag gegen die israelischen Politiker. Für wie neutral kann man den IStGH halten? Ist er völlig frei von nationalen Einflüssen?
Es gab in der Tat von einigen republikanischen US-Abgeordneten massiven Druck auf den Chefankläger selbst und andere UN-Juristen. Dem ist der Chefankläger entschieden entgegengetreten. Er drohte sogar ziemlich unmissverständlich damit, gegebenenfalls gegen die US-Abgeordneten wegen Straftaten gegen die Rechtspflege vorzugehen. Auch das sieht das IStGH-Statut vor. Man muss wohl sagen, dass der Gerichtshof in diesem Fall in geradezu exemplarischer Weise seine Neutralität unter Beweis gestellt hat. Beide Seiten werden nach denselben Maßstäben beurteilt. Die zivilisatorischen Mindeststandards des humanitären Völkerrechts gelten für beide Konfliktparteien gleichermaßen. Dass die Haftbefehlsanträge politisch ungelegen kommen, ist verständlich.


Der 62-jährige Khan ist an der Bundeswehr-Universität München Professor für öffentliches, Europa- und Völkerrecht. Er war unter anderem mehrmals vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH, nicht Strafgerichtshof) in Den Haag tätig, so etwa für die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsberater ("Adviser") in einem Rechtsstreit mit Liechtenstein. Mit dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Karim Asad Ahmad Khan, ist er weder verwandt noch verschwägert.

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  • eule75 am 24.05.2024 15:07 Uhr / Bewertung:

    Wie können Menschen noch ruhig schlafen, wenn sie so viele Tote auf dem Gewissen haben. Dieser "Krieg" ist kein Krieg mehr, sondern ein Abschlachten. Manche Menschen haben vergessen oder nicht mitbekommen, was vor zig Jahren zwischen Palästina und Israel vorgegangen ist und durch die Siedlungspolitik verschärft wurde. Deutschland sollte neutral bleiben.

  • am 23.05.2024 11:32 Uhr / Bewertung:

    Netanjahu hat sich laut eigener Aussage nichts aber auch gar nichts vorzuwerfen - deswegen kann er dem Prozess ganz gelassen entgegensehen - deswegen ist nicht die Anklage die antisemitische Unverschämtheit, sondern wäre eine Verurteilung von Netanjahu eine grenzenlose antisemitische Mißachtung dieses großen Staatsmannes
    Alle Toten im Gaza-Streifen - (ca 40T) haben ausschließlich die Hamas mit ihrem jahrzehntelangen menschenverachtenden Terror zu verantworten

  • Der Münchner am 22.05.2024 21:39 Uhr / Bewertung:

    haben den die Palästinenser ein eigenes Staatsgebiet?
    Gazastreifen und Westbank doch von Israel kontrolliert!

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