Münchens letzte Boazn: Spielend gegen das Vergessen
Schon als Martin Emmerling 2018 das erste Boazn-Quartett veröffentlichte, trug es den Titel "Münchens letzte Boazn". Jetzt, sieben Jahre später, erscheint die inzwischen fünfte Auflage des Kartenspiels. Trotzdem musste Emmerling erneut acht Stüberl seit der letzten Version streichen – sie sind inzwischen aus den Vierteln verschwunden.
Die AZ trifft Martin Emmerling in Ingrids Bierstüberl. Das Lokal, unweit des Grünwalder Stadions, ist noch da – auch wenn es fast schon sinnbildlich für die Turbulenzen in der Münchner Kneipenszene steht. Nach dem Tod der Kultwirtin Ingrid Herrmann im Mai war das Stüberl an einem Wendepunkt. Doch Ingrids Tochter Martina und Enkelin Jasmin traten in ihre Fußstapfen und übernahmen das Lokal, um es in ihrem Sinne weiterzuführen.
Am Dienstagnachmittag sind die Plätze am Tresen durchgehend besetzt. Andy, einer der Stammgäste, fragt nach einem Boazn-Quartett. Emmerling holt ein Deck hervor und reicht es ihm. Auch Ramona, die heute hinter dem Tresen steht, und die anderen Gäste werfen einen Blick auf das Kartenspiel, blättern durch und kommentieren die Werte.
Neues Spiel zu Münchner Boazn: Einige Kneipen sind für immer dicht
Anstelle der üblichen Kategorien wie "Höchstgeschwindigkeit" oder "Hubraum" finden sich auf diesem Quartett Angaben wie Biersorten, Preise für Rüscherl und Helles oder die Zahl der "Scherben pro Nacht". "Das ist eine der neuen Kategorien", erklärt Emmerling. Dafür habe er die Wirte nach den kaputten Gläsern pro Nacht befragt und die mal fünf multipliziert.
Neben den Kategorien hat sich auch die Zusammensetzung der Karten verändert. In Münchens Kneipenszene tut sich bekanntlich einiges. Als Beispiel nennt Emmerling das Fendstüberl an der Münchner Freiheit, das es nun nicht mehr gibt. Entsprechend ist es im Quartett auch nicht mehr als Karte spielbar.

Auch die Kultkneipe Bei Otto musste im Sommer endgültig schließen. Ein besonderer Fall, denn von der Schließung habe Emmerling nur zwei Wochen nach Andruck der Karten erfahren. Bei Otto ist daher trotz Schließung noch Teil des Quartetts. Ein großer Faktor bei den meisten Schließungen: "Die Inhaberinnen und Inhaber der Boazn werden älter", sagt Emmerling. Viele würden einfach keinen Nachfolger mehr finden.
Fünfte Auflage des Boazn-Quartetts
Die kleinen Kneipen sind Emmerling ein Herzensanliegen. Schon als Kind habe er sich gefragt, was sich hinter den vergilbten Vorhängen eigentlich abspielt. 2018, als sich diese Frage längst beantwortet hatte, veröffentlichte er schließlich das erste Boazn-Quartett.
Emmerling steht dafür im regelmäßigen Kontakt zu den Boazn-Betreibern, hört ihnen zu und kennt die typischen Probleme. Den Titel "Letzte Boazn" findet Emmerling nicht zu schwarzmalerisch, sagt er. Die Entwicklung zeige nun mal, dass es immer weniger Boazn gebe. "Die Situation ist prekär – für Mieter, Gastronomie und insbesondere für kleine Boazn".
Emmerling hat sein Quartett inzwischen auch in anderen Städten umgesetzt – etwa mit dem "Kiezkneipen-Quartett" für Berlin und Hamburg oder dem "Veedelskneipen-Quartett" in Köln. Die ursprüngliche Idee stammt aus seiner Heimatstadt München. Die Probleme aber seien überall dieselben: "Ein Kneipensterben gibt es in ganz Deutschland", so Emmerling.
Problem für die Betreiber: Stammgäste ziehen weg
Auch die Gäste beklagen Probleme. Andy ärgert sich etwa über die hohen Mieten und steigenden Preise in der Gastronomie. "Ich bin gerade auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung", erzählt er. Ein Problem, das auch viele Boazn indirekt trifft. Stammgäste könnten sich die Mieten in den Vierteln nicht mehr leisten, sagt Emmerling. Das würden ihm auch viele Betreiber erzählen. "Die ziehen dann weg und damit geht die Kundschaft verloren."

Es sind Themen, die hier zwischen Biergläsern, Alltagsgesprächen und Lachen immer wieder durchscheinen. Man mag vom Boaznsterben sprechen – noch geht es aber immer irgendwie weiter. "Ich freue mich, wenn ich in eine Boazn reinkomme", sagt Emmerling, der eigentlich Kabarettist, Künstler und Autor ist. "Ich komme gerade vom Eltern-Kind-Turnen", erzählt er und lacht – eine völlig andere Welt.
Und es gibt – neben dem guten Ausgang für Ingrids Stüberl – auch schöne Geschichten in der Boaznszene. Geschichten mit Happy End. Wirtin Tina etwa hat im vergangenen Jahr ihre Kneipe "Bei Tina" in der Lindwurmstraße nach 27 Jahren abgegeben. Die heißt jetzt L185 und hat neue Betreiber. Trotzdem steht die ehemalige Wirtin noch dreimal die Woche hinter dem Tresen, freut sich Emmerling.
Zukunft der Münchner Boazn ungewiss
Auch im beliebten Lokal "Bei Dagmar" in Sendling geht es nach dem Tod von Wirtin Dagmar Ehlert weiter. Mitarbeiter und Freund Herbi führt seit Anfang des Jahres das neue "Bei Dagmars Herbi".
Die "letzten Boazn" sind also noch einige – zumindest so viele, dass Emmerling seine 32 Karten befüllt bekommt. Auch in zwei Jahren – zur sechsten Auflage – werde es noch Boazn geben, ist Emmerling sicher. "Wie es hingegen in 20 Jahren aussieht, weiß ich nicht."
Mit dem Quartett wolle er – neben Spielspaß – die Thematik in den Fokus rücken und die Sehnsucht wecken, die Boazn zu besuchen, die noch da sind.
- Themen:
- Grünwalder Stadion
- Münchner Freiheit

