"Eine völlige Irreführung": Produzieren die Münchner Stadtwerke wirklich 100 Prozent Ökostrom?

Schon ein wenig vergilbt ist der Zettel, den Stadtwerke-Chef Florian Bieberbach zur Pressekonferenz mitgebracht hat. Immerhin hängt er schon seit 16 Jahren in seinem Büro. Darauf ist ein Antrag gedruckt, den SPD und Grüne 2009 stellten – und dessen Ziel die Stadtwerke laut Bieberbach Ende dieses Jahres erfüllen: Das städtische Unternehmen soll ab 2025 so viel Öko-Strom in eigenen Anlagen produzieren, wie München verbraucht.
2009 betrug der Ökostrom-Anteil der Stadtwerke gerade mal fünf Prozent. Ihn auf 100 Prozent zu steigern, sei ein ehrgeiziges Ziel gewesen, sagt Bieberbach. Er klingt, als habe er damals selbst nicht so recht daran geglaubt: "Ein bisschen Wahnsinn gehört zum Unternehmertum ja dazu."
100 Prozent Ökostrom bedeutet allerdings nicht, dass dieser physikalisch in München ankommt, gab Bierbach zu. Sondern: Die Stadtwerke bauen und kaufen so viele Wind-, Wasser- und Photovoltaik-Anlagen, dass sie dort rechnerisch den Stromverbrauch aller Münchner Haushalte und Unternehmen produzieren.
Die Windräder stehen hauptsächlich in der Nordsee, Norwegen und Brandenburg
Die allermeisten dieser Anlagen stehen nicht in München und auch nicht im Umland. Besonders in den ersten Jahren nach dem Stadtratsbeschluss investierten die Stadtwerke vor allem hunderte Kilometer weit weg: Sie bauten Windräder in Brandenburg, in Norwegen und in der Nordsee. Auch an einem Solarpark in Andalusien beteiligten sie sich. "Eine völlige Irreführung der Bürger" nennt Linken-Chef Stefan Jagel das Ganze. Schließlich komme Strom aus Windparks in Norwegen nie in München an.

Dass die Anlagen alle weit weg von München stehen, sei kein Zufall, sagt Bieberbach. Eine Analyse habe damals gezeigt, dass München seinen Strombedarf nicht alleine vor Ort decken kann. Zum einen, weil der Wind an der Küste stärker weht. Zum anderen erschwerten politische Restriktionen den Ausbau.
Ein Beispiel dafür ist die sogenannte 10-H-Regel, die besagt, dass Windräder einen Mindestabstand vom zehnfachen ihrer Höhe zu Wohnhäusern haben müssen. Inzwischen ist diese Regel gelockert. Seit einer Weile treiben die Stadtwerke den Ausbau der Erneuerbaren rund um München mehr voran. In den kommenden Monaten wollen die Stadtwerke drei Solarparks eröffnen (bei Dachau, Erding und Garching).
Die größte Anlage davon ist die in Zengermoos im Landkreis Erding. Sie misst fast 40 Fußballfelder und kann rechnerisch 63 Prozent des Strombedarfs von Moosach abdecken, sagt Karin Thelen. Sie verantwortet bei den Stadtwerken den Ausbau der Erneuerbaren in der Region. Auch neue Windparks im Landkreis Eichstätt und im Landkreis Fürstenfeldbruck wollen die Stadtwerke in den nächsten Jahren eröffnen.
Nur 7,6 Prozent des Ökostroms kommen aus Bayern
Trotzdem macht die Ökostrom-Produktion in Bayern noch immer einen geringen Anteil aus: Nur 7,6 Prozent wird laut Bieberbach im Freistaat erzeugt. Das größte Problem sei die Flächenknappheit, sagt Thelen. Außerdem würden Kommunen rund um München immer öfter selbst Windparks vorantreiben. Die Gemeinden Baierbrunn, Neuried, Pullach, Schäftlarn und ein Unternehmen investieren zum Beispiel gerade in sechs Windräder im Forstenrieder Park.
Ihren Kurs, Windenergie im Norden Deutschlands und in der Nordsee auszubauen, wollen die Stadtwerke fortsetzen. "Zum Beispiel hoffen wir gerade, dass wir den Zuschlag für einen Offshore-Windpark vor Irland bekommen", sagt Bieberbach. Dreistellige Millionenbeträge wäre er bereit, für solche neuen Windparks zu investieren.
Fast 130 Millionen Gewinn mit den Erneuerbaren Energien
Denn zumindest bis jetzt habe sich der Ausbau der Erneubaren wirtschaftlich gelohnt. 4,2 Milliarden investierten die Stadtwerke bis jetzt. Davon seien 3,5 Milliarden bereits wieder zurückgeflossen. Zwischen 2020 und 2024 wurde mit den Erneuerbaren Energien ein Gewinn von fast 130 Millionen erwirtschaftet. Ohne dieses Geschäft hätte sich die Stadt ihre weniger profitablen Bereiche wie Bäder oder Mobilität nicht finanzieren können, sagt Bieberbach. Das Rathaus wiederum habe den Ausbau der Erneuerbaren Energien nie bezuschussen müssen.
Wirtschaftsreferent Christian Scharpf (SPD) ist froh, dass München – anders als andere Kommunen – die Stadtwerke nie verkauft hat. Sie beweisen aus seiner Sicht, dass wirtschaftlicher Erfolg und eine nachhaltige Energiepolitik keine Gegensätze sind. Dass die Preise für die Kunden sinken, will der Stadtwerke-Chef trotzdem nicht versprechen.