Bayern auf Platz 3 bei Drogentoten: Deswegen kämpft die Aidshilfe in München für einen Konsumraum

München - Es dauert nur ein paar Sekunden, aber die genügen, um einen Teil des grundlegenden Problems offenzulegen. Es geht um einen sogenannten Drogenkonsumraum, von zig Hilfs-Organisationen bis hin zum Bundesdrogenbeauftragten seit Jahr und Tag gefordert, von der bayerischen Staatsregierung jedoch bislang abgelehnt.
Drei Tage vor Welt-Aids-Konferenz: Kunst-Drogenkonsumraum in München eröffnet
Drei Tage vor Beginn der Welt-Aids-Konferenz in München hat die Deutsche Aidshilfe nun zur offiziellen Nicht-Eröffnung eines solchen Raums in einer sonst als Galerie genutzten Lokalität in der Fraunhoferstraße 21 eingeladen. Man steht also vor dem Schaufenster eines voll funktionsfähigen Konsumplatzes für Drogenabhängige.
Zu sehen: sterile Spritzen und Konsum-Utensilien, das Notfall-Medikament Naloxon gegen Überdosierungen, ein Beatmungsgerät, Rauchutensilien für Crack-Konsumierende und an der Wand im Hintergrund der Satz "Hier könnten Leben gerettet und Infektionen verhindert werden".

"Todesfall wegen geschlossen": Kunstaktion soll auf Drogentote aufmerksam machen
An der verschlossenen Tür die Aufschrift: "Todesfall wegen geschlossen". Eine Kunstaktion, um auf die Thematik aufmerksam zu machen. Ein halbes Hundert Interessierter bevölkert den Gehsteig vor der Galerie, Reden werden gehalten, als eine Dame - offenbar eine Anwohnerin - sich befleißigt fühlt, laut dazwischen zu rufen: "Warum muss so was ausgerechnet hier her?" Von der Antwort - hier entsteht kein Drogenkonsumraum, es handelt sich um eine Kunstaktion - bekommt sie nur den ersten Halbsatz mit und stürmt schon wieder davon. Ihre unausgesprochene Botschaft: Drogenkranken helfen? Von mir aus, aber bitte schön nicht vor meiner Haustür!
Stefan Miller vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe, ein Mann mit markanter Irokesen-Frisur, erklärt das ungewöhnliche Setting: "Dies ist eine künstlerische Aktion, um zu verdeutlichen: Drogenkonsumräume sind keine Kunst. Sie sind machbar, erprobt und notwendig. Ob Leben gerettet und Infektionen verhindert werden oder nicht, ist eine politische Entscheidung. Bayern entscheidet sich immer noch und jeden Tag wieder dagegen. Das können wir kurz vor der Welt-Aids-Konferenz im Freistaat nicht unkommentiert lassen. Unsere Botschaft: Drogenkonsumräume muss es in allen Bundesländern geben!"
Einstieg in Hilfsangebote: Warum die Aidshilfe in München Drogenkonsumräume fordert
Weil sie nicht nur medizinische Hilfe im Fall einer Überdosis und Infektionsprophylaxe durch sterile Utensilien ermöglichen, sondern auch ein wichtiger Einstieg in weitere Hilfsangebote sind und den Konsum aus der Öffentlichkeit in einen geregelten Rahmen verlagern.
Bislang wehren sich außer Bayern noch sechs weitere Bundesländer - trotz alarmierender Statistiken. Wie das Robert-Koch-Institut kürzlich mitteilte, ist die Zahl der drogenbedingten Todesfälle und die der HIV-Neuinfektionen bei intravenös Drogen konsumierenden Menschen kontinuierlich gestiegen. Bayern liegt mit 257 Todesfällen im vergangenen Jahr auf einem unrühmlichen dritten Platz in Deutschland.
Etwa 40 Menschen infizierten sich nach Schätzung des Robert Koch-Instituts in Bayern durch intravenösen Drogenkonsum mit HIV; bundesweit waren es 380. Deshalb fordern die Deutsche Aidshilfe und ein breites Bündnis die Landesregierung auf, Drogenkonsumräume endlich auch in Bayern möglich zu machen und damit der Empfehlung der WHO, der europäischen Gesundheitsorganisation und der European Union Drugs Agency zu folgen. Dafür fehlt lediglich eine Rechtsverordnung. Vertreter der Landesregierung sind an diesem Morgen in der Fraunhoferstraße nicht zu sehen.
Ins Gespräch kommen: Warum Drogen-Experten Konsumräume fordern
Man wolle nicht polarisieren, sondern ins Gespräch kommen, heißt es vonseiten der Initiatoren. Burkhard Blienert, Beauftragter für Sucht- und Drogenfragen der Bundesregierung, sagte vor dem Schaufenster im Glockenbachviertel: "Drogenkonsumräume retten Leben, ebenso wie das Drug-Checking. Beides sind wichtige Instrumente, um überhaupt einen Zugang zu schwerstsuchtkranken Menschen zu bekommen. Das können erste Schritte sein zu Hilfen und Therapien."
Darüber hinaus lieferten Drogenkonsumräume wertvolle Informationen über die Verbreitung von Drogen, die Entwicklungen auf dem Drogenmarkt und das Konsumverhalten generell, so Blienert: "Dass Drogenkonsumräume Sinn machen, bestreitet in der Fachwelt schon lange niemand mehr. Eine Debatte über das ‚Ob' können wir uns angesichts der riskanten Entwicklungen bei Crack und synthetischen Opiaten wie Fentanyl nicht mehr leisten. Ich appelliere deshalb nochmal an die Bundesländer ohne diese Angebote: Ermöglichen Sie die Einrichtung von Drogenkonsumräumen, auch gleich mit Drug-Checking!"
Verena Dietl, Münchens dritte Bürgermeisterin (SPD), stößt ins gleiche Horn: "Die Stadt ist überzeugt, dass durch Drogenkonsumräume nicht nur die abhängigen Menschen besser geschützt sind, sondern auch alle anderen Bürgerinnen und Bürger. Die Landesregierung sollte die Entscheidung den Kommunen überlassen, die am besten wissen, was vor Ort gebraucht wird. Ich verstehe nicht, warum das hier nicht möglich ist."

OB Reiter fordert von Söder, Drogenkonsumräume zu erlauben
Nach einem entsprechenden Brief des Oberbürgermeisters an Ministerpräsident Markus Söder wartet Dieter Reiter noch auf Antwort. Erneut hat der OB die Schirmherrschaft für den Internationalen Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende auf dem Marienplatz übernommen, wo zwischen den Glockenspielen um 11 und 12 Uhr diese vergleichsweise ernsten Themen angesprochen wurden.
Wie München möchten auch die Städte Nürnberg und Augsburg Drogenkonsumräume eröffnen. Doch die bayerische Landesregierung gesteht den Kommunen diese Entscheidung einfach nicht zu. Dabei gibt es zum unbestrittenen Nutzen einer solchen Einrichtung längst aussagekräftige Zahlen.
Das Institut für Therapieforschung in München und die Deutsche Aidshilfe haben Daten aus 29 von 33 bundesweiten Einrichtungen ermittelt: 638 Mal wurde im vergangenen Jahr medizinische Notfallhilfe geleistet. Ohne diese wären viele der Betroffenen in ihren Wohnungen oder auf der Straße gestorben.
Wegschauen, wenn Menschen sterben: Das sollte sich niemand erlauben.