AZ-Interview: Auf eine Weißwurst mit Rainer Maria Schießler - "Beerdigungen? Kaum noch!"
Er ist Wiesn-Kellner, Pfarrer – und bald Wirt: Rainer Maria Schießler. Hier spricht er über sein Verhältnis zum Kardinal, seine Idee von Kirche – und das Leben als Löwen-Fan.
Münchnerischer geht’s nicht. Direkt am Viktualienmarkt, die Sonne scheint, die Heiliggeistkirche bimmelt – und der Herr Pfarrer kommt angeradelt. Blutverschmiert, weil die Katze partout nicht in den Katzenkäfig und erst recht nicht zum Tierarzt wollte. Das Lokal „Jessas, Maria + Josef“ ist eine Zwischennutzung. Bald soll hier, im ehemaligen „Kaffee und mehr“, eine Wirtschaft aufmachen, die der Kirchengemeinde gehört. Hier geht’s zum angenehmen Teil: Interview mit Weißwürscht. Gekonnt gezuzelt, nicht geschnitten, das kann er. Wären die Würste ein bisserl frischer gewesen, wär’s eine wahre Freude gewesen. In diesem Sinne.
AZ: Herr Schießler, welche Rolle kann eine Wirtschaft für eine Kirchengemeinde spielen?
RAINER MARIA SCHIESSLER: Wir kennen ja in unserer Tradition beide Gemeinschaften: die kultische Mahl-Gemeinschaft und die profane Mahl-Gemeinschaft. Was in der Stadt völlig verloren gegangen ist, ist der Sonntags-Brunch nach der Eucharistie. Nicht gleich heimzugehen, man bleibt noch zusammen, trinkt eine Halbe, isst Weißwürscht.
Warum funktioniert das in der Stadt nicht mehr?
Ja, welche Kirche in München hat schon eine Wirtschaft daneben? So ist uns diese Idee hier gekommen, es ist ja unser Haus, unser Pfarrhof. Deshalb habe ich gefragt, wie lange der Pächter noch einen Vertrag hat. Ich habe ihm gesagt, dass wir hier etwas aufziehen wollen.
Das wird ihm nicht gefallen haben.
Er fand es scheiße. Ich habe ihm gesagt, dass ich das verstehe. In dem Moment habe ich meinen Job gehasst, ich hatte nie ein Problem mit ihm gehabt. Aber Geschäft ist Geschäft.
Wann soll es hier eine echte Kirchen-Wirtschaft geben?
Im Herbst soll das Konzept stehen, und dann gibt es eine Ausschreibung. Nächstes Jahr im Sommer soll es laufen. Und zwar richtig, als Speisewirtschaft.
Und dafür gibt es Bedarf in der Gemeinde?
Am Viktualienmarkt ist ja sonntags fast alles zu. Es soll nach der Messe auf sein, es geht ja um eine Fortsetzung der Sonntags-Kultur. Man kann zwar sagen: Du hast doch ein Pfarrheim. Doch das ist klein, nicht einladend.
Sie sind hier sehr nahe am hippen Gärtnerplatzviertel. Wie bemerkt man die Aufwertung in einer Kirchengemeinde?
Sie wird immer jünger.
Finden Sie, sie ist heute sehr anders als noch vor zehn oder 20 Jahren?
Ja! Ich meine damit weniger die Stimmung, mehr meine Aufgaben. Ich bin nur noch ganz wenig auf dem Friedhof.
Wie viele Beerdigungen haben Sie vor 25 Jahren gemacht?
100.
Und jetzt?
20. Der jüngere Mensch stirbt halt selten. Meinen Seniorenkreis habe ich auch schon vor 25 Jahren aufgelöst.
Sind die Neuzugezogenen weniger bereit, sich zu engagieren?
Nein, im Gegenteil. Für mich sind die Herausforderungen andere geworden. Früher haben sie sich lange zurückgehalten, bis sie einem Pfarrer mal die Meinung gegeigt haben. Heute kommt jeder sofort.
Sie experimentieren sehr viel, segnen schwule Paare, kritisieren das Zölibat. Was ist konservativ an Ihnen?
Conservare heißt bewahren. Ich bewahre in mir genau die Dinge, die mir grundgelegt worden sind. Zu mir hat einer meiner geistlichen Führer gesagt: Deine Aufgabe ist es – ganz gleich, was du tust, vom Einzelgespräch bis zum Riesen-Vortrag –, dass jeder, der heimgeht, das Gefühl hat, ein wichtiger Mensch zu sein. Wenn du das erreicht hast, hast du Seelsorge gemacht. Das genügt. Und das ist für mich das Konservierende. Was nicht heißt, äußere Formen strikt beizubehalten.
Menschen, die es ernst mit sich meinen – "für die bin ich da"
Inwiefern?
Es steht ja nicht der Wesenskern unseres Glaubens zur Debatte, wenn ich über Gesetze rede. Wenn wir über das Zölibat reden, reden wir über Erkenntnis. Wenn wir heute Homosexualität anders beurteilen, als es der biblische Mensch getan hat, dann hat das auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun. Vor 2000 Jahren hat man das anders beurteilt. Es geht nicht um die Verherrlichung von gleichgeschlechtlicher Liebe.
Worum geht es Ihnen denn bei diesem Thema?
Um mit meinem Papst zu sprechen: Wenn ein Mensch zu mir kommt – unter welcher Voraussetzung auch immer –, habe ich nicht das Recht, ihn zu verfluchen. Das Gegenteil von Verfluchen ist Segen. Ich erlebe homosexuelle Partner als Menschen, die es mit sich ernst meinen. Für die bin ich da. Ich zeige ihnen aber auch deutlich, wo die Grenzen sind.
Wo sind die für Sie?
Wenn wir heterosexuelle Eheschließungen kopieren würden. Aber wir kopieren gar nichts. Ich kann nicht einen Ehewillen abfragen, weil der einfach in der von der Natur gegebenen und der biblischen Ordnung nicht vorgesehen ist. Aber das heißt doch nicht, dass man nicht in der Lage ist, sich zu verschenken. Die Menschen tun es ja – auf ihre Weise.
Sind Sie der einzige Pfarrer, der solche Rituale durchführt?
Ich hoffe nicht. Es kann nicht sein, dass wir uns von diesen Leuten abwenden, Es ist meine Kritik an der Obrigkeit, dass ich gerne etwas in die Hand bekommen würde: Bibelstellenverweise, wie ich positiv mit ihnen rede, wenn zwei Schwule kommen. Natürlich kann ich das auch selbst. Aber es geht auch um mein Unterbewusstsein. Ich hätte meine Kirche gerne mit im Boot. Dass, wenn ein Paar vor mir steht und seine Liebe bekundet, meine Kirche mir sagt: Nein, du machst nichts Falsches. Vor 50 Jahren...
... was war da?
Da hat die Kirche es noch als einen Fehler gesehen, wenn man sich in einen Evangelischen verliebt hat. Die Leute sind halt nicht in die Disco rein mit einem Schild: Ich knutsche nur mit Katholischen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Herde schon weit vorangeht – und die Hirten hinterhertraben.
Pfarrer Rainer Maria Schießler in der Heilig-Geist-Kirche. Foto: Daniel von Loeper
Apropos Hirte: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Kardinal Reinhard Marx beschreiben?
Wir haben gewöhnlich sehr wenig miteinander zu tun. Meine Prägung war immer: Geh nicht zum Fürsten, wenn du nicht gerufen wirst.
Sie reden nicht miteinander?
Wenn wir uns sehen: natürlich. Aber wir sehen uns nur selten. Ich habe Ehrfurcht und Gehorsam versprochen. Aber doch nicht im Sinne eines Kadaver-Gehorsams. Die Oberen müssen meine Meinung aushalten. Und ich finde, er macht das gut. Er lässt mich ja, es ist nicht so, dass ich jede Woche antanzen muss.
Wenn er eine Kirche hat in der Stadt, die voll ist, wäre er ja auch blöd, wenn er sie entleert.
Reden wir deutsch: Die Bischöfe müssen sich keine Gedanken machen über leere Kirchen, so lange der Zaster da ist. Es würde anders ausschauen, wenn man von den Leuten leben würde, die in die Kirche gehen.
Wollen Sie die Kirchensteuer abschaffen?
Der bürokratische Aufwand wäre zu groß. Aber es ist wichtig, dass niemand deshalb austritt.
Viele sagen: Die 500 Euro im Jahr sind mir zu viel.
Dann müssten wir uns leisten können, im Kirchenamt zu sagen: Gut, dann machen wir 200.
Sie haben mal gesagt, Sie haben vom 24-Stunden-Kiosk an der Reichenbachbrücke gelernt. Was denn genau?
Nachts um 4 stand dort eine 100-Meter-Schlange. Ich dachte: Leck mich am Arsch. Dann habe ich den Kiosk-Chef Harry gefragt, was ich anders machen soll. Er sagte: Du musst dein Schild abnehmen, dass von 10 bis 12 auf ist. Daraufhin habe ich den Anrufbeantworter abgeschafft. Wenn jemand anruft, ist immer jemand zum Reden da.
Wer geht dann ans Telefon?
Die ganz normale Pfarreinummer wird auf mein Handy umgeleitet. Und wenn ich nicht kann, geht ein pensionierter Pfarrer dran. Die paar Anrufe, die wirklich nachts kommen, sind ja eigentlich auch gewünscht. Wir sagen den Leuten ja, sie sollen uns holen, wenn zum Beispiel jemand im Sterben liegt.
Reden wir über Laim. Da ging es zu Ihrer Jugendzeit sicher noch sehr bodenständig zu.
Und wie!
Jetzt sind Sie heute in Gegenden der Stadt, die vieles sind, aber nicht mehr bodenständig. Vermissen Sie das alte München?
Ich hatte in Laim eine sehr schöne Zeit. Es war so einfach, so geregelt. Überall um mich herum waren fröhliche, anständige Christen. Unsere Pfarrei in der Agnes-Bernauer-Straße war, Tschuldigung, arschnormal.
Sie sind Löwen-Fan. Wie sehr ist das Gefühl verlorengegangen?
Ich habe das Gefühl seit meiner Kindheit drin und werde es mit ins Grab nehmen.
Wenn es klappt mit der Rückkehr, können Sie bald zu Fuß ins Stadion laufen. Bemühen Sie sich um eine Dauerkarte?
Das ist schlecht, weil ich oft keine Zeit habe. Aber meinen Sechzig-Schal habe ich immer dabei.
Anfang der 90er waren Sie ja mal Kaplan in Giesing.
Die schönste Zeit! Ich erinnere mich an ein letztes Saisonspiel, meine Ministranten waren im Stadion draußen. Sechzig hat verloren, ich glaube 0:1 gegen Leipzig. Da sind sie während der Andacht gekommen und haben mir einen Zettel hingelegt. „0:1 verloren, aber wir bleiben trotzdem den Löwen treu.“ Den habe ich den Leuten am Ende in der Kirche vorgelesen.
Glauben Sie, manche finden es peinlich, wenn ein Pfarrer öffentlich an die Löwen schreibt?
Ist mir wurscht. Ich finde auch vieles peinlich und kann es nicht ändern.
Wird jemandem wie Ihnen eigentlich mal alles zu viel?
Ja.
Und dann?
Dann muss ich mich ausklinken, steige auf die Maschine und fahre 200, 300 Kilometer. Dann bin ich auch gedanklich weg.
"München ist für mich ein Lebensgefühl"
Wo fahren Sie dann hin?
Zum Beispiel ins Ötztal. Da habe ich sehr liebenswerte Freunde.
Reden wir noch über die Wiesn, auf der Sie immer kellnern. Was sind da die besten Momente?
Abends. Die dritte Reservierung, 19 Uhr, die Leute haben gegessen und gehen ins Tanzen über. Da trägst du nur noch deine 13, 14 Maß durch, tanzt mit. Später kippt es, wenn die Leute zu viel haben. Aber diese zwei, drei Stunden vergehen wie im Flug.
Sie sind Pfarrer, Vermieter, Kellner. Irgendwie aber auch vor allem Münchner, oder?
Wenn ich aus dem Ausland vom Flughafen komme, in der S-Bahn sitze und in Ismaning wieder die grünen Wiesen sehe, denke ich: Jetzt bin ich wieder daheim. München ist für mich ein Lebensgefühl. Das ist nicht nur ein Spruch. Ich kenne viele, die sagen, sie sind Münchner. Und können kein Wort Bairisch. Ich bin meinem Umfeld sehr dankbar, dass alle Bairisch gesprochen haben: Lehrer, Pfarrer, Mitschüler. Die Sprache war immer ein Stimmungsbarometer. Je mehr Schriftdeutsch mein Vater gesprochen hat, desto gefährlicher wurde die Gesamtsituation. Da wusste man: Der Watschnbaum neigt sich.