Arbeiten an Münchner Unis: Forschen nur mit Frist
München - Plötzlich waren alle Hanna. Hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich seit vergangener Woche auf dem Kurznachrichtendienst Twitter unter dem Hashtag #ichbinhanna zu Wort gemeldet und die Arbeitsbedingungen an deutschen Universitäten beklagt.
Der Hintergrund: Ein Video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. In diesem geht es um die Biologin Hanna, eine Comicfigur. Die Doktorandin steht gerade am Ende ihres befristeten dreijährigen Arbeitsvertrages, der nun um drei weitere Jahre verlängert wurde.
Nach Abschluss dieser drei Jahre, so erklärt das die Stimme in dem Video, darf sie nicht weiter befristet beschäftigt werden. Es sei denn, sie beendet ihre Promotion. Dann darf sie sechs weitere Jahre lang in befristeten Arbeitsverträge arbeiten.
Gesetz führt zu Unsicherheit bei Wissenschaftlern
Das Gesetz, auf dem dieses Prinzip basiert, nennt sich Wissenschaftszeitvertragsgesetz ("WissZeitVG"). Es ist 2007 in Kraft getreten und soll, so erklärt das Video, verhindern, dass eine Generation von Wissenschaftlern "alle Stellen verstopft". Mit den begrenzten befristeten Verträgen käme es dagegen "zu Fluktuation und die fördert die Innovationskraft".
Ein Hohn, fand die Literaturwissenschaftlerin Kristin Eichhorn - und teilte das Video mit dem Hashtag #ichbinhanna auf Twitter. Ihr folgten Hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Tenor: Das Gesetz zwinge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in jahre- bis jahrzehntelange berufliche Unsicherheit.
78 Prozent der Wissenschaftler befristet angestellt
Denn auch, wenn das Gesetz befristete Verträge nicht zwingend vorschreibt, sind diese an deutschen Universitäten doch die Regel. Einer Umfrage des DGB aus dem Jahr 2020 zufolge sind aktuell 78 Prozent der Wissenschaftler an deutschen Universitäten befristet angestellt. Für sie alle bedeutet das "WissZeitVG" eine permanente Bedrohung ihrer Existenz.
Auch an den Münchner Universitäten sind befristete Verträge die Regel. Die Folge: Die Abhängigkeit des wissenschaftlichen Personals von Drittmittelprojekten steigt seit Jahren immer weiter an. Denn in diesen können befristete Verträge unbegrenzt weiter verlängert werden. Und viele Drittmittelprojekte werden von privaten Unternehmen finanziert. "Durchschnittlich fließen knapp 1,5 Milliarden Euro jedes Jahr aus der Wirtschaft in Drittmittelprojekte", sagt Peter Büttner, der Leiter des Projektes Hochschulwatch.de, das sich für mehr Transparenz in der Forschungsfinanzierung einsetzt. "An der TU in München stammen inzwischen 27 Prozent der Drittmittel von privaten Unternehmen." Er sieht die Gefahr, dass die zunehmende Finanzierung von Drittmittelprojekten durch private Unternehmen die Ergebnisse der Forschung beeinflussen - oder Teile der Forschungsergebnisse einfach nicht veröffentlichen.
Das Video mit Biologin Hanna ist mittlerweile von der Seite verschwunden
"Beispielsweise gibt es ein Institut an der Münchner TU, das sich mit Ethik in der Digitalisierung befasst - und das wird mit mehreren Millionen Euro von Facebook mitfinanziert", sagt er. "Und beispielsweise in Bezug auf die Pharmaindustrie gibt es durchaus die Sorge, dass diese zwar mit staatlichen Geldern forschen, dann aber Teile der Ergebnisse einfach nicht veröffentlichen."
Inzwischen hat sich das Bundesministerium zur Debatte um #ichbinhanna zu Wort gemeldet. Wissenschaftliche Qualifikation, so schreiben sie in ihrer Antwort, sei nicht nur für den akademischen Arbeitsmarkt wichtig - sie solle auch die Innovationskraft der Unternehmen fördern. Das Video mit der Biologin Hanna ist inzwischen von ihrer Seite verschwunden.
"Für Jahre festgehalten ohne Sicherheit"

Katharina Voggel, 32, Astrophysikerin: "Ich kann mir nicht mehr vorstellen, zurück nach Deutschland zu gehen. Ich bin jetzt 32, da möchte ich einen festen Job haben, vielleicht eine Familie gründen. Die Zukunft planen. Aber in Deutschland gibt es keine festen Stellen, da wäre das nicht möglich. Nachdem ich an der LMU und der ESO (European Southern Observatory) promoviert hatte, bin ich erst einmal ziemlich direkt in die USA gegangen. Inzwischen lebe ich seit knapp sechs Jahren im Ausland, aktuell in Frankreich. Hier gibt es wenige Stellen in der Wissenschaft, aber wenn man eine bekommen hat, dann hat man danach die Sicherheit, dass man sie auch behalten kann. Das gibt es in Deutschland nicht. Von dem Jahrgang, der damals mit mir zusammen in München die Promotion abgeschlossen hat, hat die Hälfte bereits die Uni verlassen.
Eine feste Stelle in der Wissenschaft hat bisher noch keiner gefunden. Auf dem Stand, auf dem ich jetzt bin - sechs Jahre nach der Doktorarbeit - könnte ich mich in Deutschland nur auf ,Nachwuchs-Stellen' bewerben, als Post-Doc. In dieser ,Nachwuchs-Position' wird man dann für Jahre festgehalten, ohne die Sicherheit, dass es jetzt funktioniert mit der Wissenschaft. Oder eben, dass es nicht funktioniert. An Festangestellten hat das Bundesministerium kein Interesse, die sind zu teuer. Mit ihrer Regelung produzieren sie massenhaft billige Arbeitskräfte. Die hangeln sich dann von Projekt zu Projekt - und stellen vielleicht irgendwann mit 40 fest, dass es nichts werden wird mit der Karriere in der Wissenschaft. Aber gerade für Frauen ist es mit 40 einfach zu spät. Die stehen irgendwann mit Mitte 30 vor der Frage, ob sie nun Kinder haben wollen oder nicht, vor den entscheidenden Fragen. Und dafür braucht man die Sicherheit, was man in der Zukunft arbeiten wird, eine befristete Stelle ist da noch viel schlimmer als für Männer. Die deutsche Befristungspraxis ist der Tod für Frauen in der Wissenschaft."
"Großer Druck und Überstunden als Regel"

Sebastian Bolz, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU und Mittelbausprecher am dortigen Department Kunstwissenschaften: "Ich arbeite aktuell an einem Forschungsprojekt zu den Werken von Richard Strauss, einem Drittmittelprojekt. Damit bin ich vom Wissenschaftszeitvertragsgesetz nur mittelbar betroffen: Ich bin zwar auch befristet angestellt. Aber anders als bei den Leuten, die auf Haushaltsstellen durch das ,WissZeitVG' befristet sind, haben die Kettenbefristungen bei den Drittmittelprojekten zunächst einmal keine harte Grenze. Theoretisch kann man bis zur Rente befristet arbeiten. Wenn alles nach Plan läuft, sind wir in unserem Projekt bis 2035 angestellt, immer in Intervallen von mehreren Jahren, in denen die Befristung verlängert wird. Die Regelung, nach der man nach dem ,WissZeitVG' vor und nach der Promotion jeweils nur sechs Jahre lang befristet arbeiten darf, betrifft uns trotzdem: Unsere Arbeitsverträge werden auf diesen Zeitraum angerechnet.
Weil ich jetzt schon seit mehr als sechs Jahren in einem befristeten Vertrag arbeite, dürfte ich also nicht mehr auf einer etatmäßigen Stelle an der Uni anfangen. In unserem Projekt haben wir regelmäßige Zwischenevaluationen. Sie schaffen einen großen Druck. Überstunden sind die Regel. Eigentlich arbeitet kein Wissenschaftler an der Uni tatsächlich die vorgegebenen Zeiten, alle machen mehr. Das Risiko, das damit zusammenhängt, dass wir die Ziele unseres Projekts nicht erreichen, ist ja ein sehr persönliches: Wenn das Projekt eingestellt wird, dann verlieren wir unsere Jobs. Damit das nicht passiert, betreiben wir, wenn es sein muss, auch Raubbau an uns selbst. Hinter all dem stehen große wissenschaftspolitische Zusammenhänge. Der Konkurrenzdruck schwingt immer mit. Es wird so getan, als sei all das natürlich, als müssten die Unis einfach ein kompetitiver Raum sein, als wäre die Verwirtschaftlichung völlig normal. Dabei wird dann schnell vergessen, dass das ja gezielt so aufgebaut worden ist. Unsere Situation wird politisch in Kauf genommen."
"Die Forschung ist ein Leben auf Abruf"

Oskar Fischer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie in der LMU München: "Ich denke, das Problem geht viel tiefer als das Wissenschaftszeitgesetz. Die Universitäten werden auf ökonomische Verwertbarkeit umgemodelt und immer stärker für Konzerne geöffnet. Das Lehrpersonal bleibt dabei auf der Strecke. Ich habe meine Promotion mit einem Stipendium von der Hans-Böckler-Stiftung geschrieben. Ohne Stipendium hätte ich meinen Doktor nie bekommen, es gibt viel zu wenige Promotionsstellen an der Uni. Parallel zur Promotion habe ich damals als Lehrbeauftragter gearbeitet. Da wird man dann aus Sachmitteln bezahlt, man bekommt sehr wenig Geld, etwa 1.500 Euro im Semester. Das ist so gedacht, dass Leute aus der Praxis nebenher ein kleines Bisschen lehren, aber tatsächlich wird einfach fehlendes Lehrpersonal dadurch aufgestockt.
Seit anderthalb Jahren bin ich jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter und mache hauptsächlich Lehre. Ich bin natürlich befristet. So wie fast alle. Ich kenne überhaupt nur zwei oder drei Leute unterhalb der Profs, die nicht befristet sind. Mein jetziger Vertrag läuft für drei Jahre. Und dann? Das ist die große Frage. Ich habe keine Garantie, dass ich weiterbeschäftigt werde. Als "Post-Doc" habe ich sechs Jahre Zeit, einen festen Vertrag zu bekommen. Wenn ich keinen kriege, dann dürfen die Unis mich nicht mehr befristet anstellen. Angeblich soll uns diese Regelung vor Kettenbefristungen schützen, aber die Realität ist Perspektivlosigkeit. Man geht für zehn Jahre in eine akademische Laufbahn und dann gibt es plötzlich keinen Anschlussvertrag mehr. Man hat nur noch die Möglichkeit, Drittmittel einzuwerben. Aber Drittmittel sind stärker von Konjunkturen abhängig. Unabhängige Wissenschaft sollte nicht von politischen Stimmungen abhängen. Ich möchte sehr gerne in der Forschung bleiben, aber ich möchte auch, dass die Forschung anders wird. Dass sie nicht zwingend ein Leben auf Abruf bedeutet und materielle Unsicherheit. Und dass der Einfluss der Konzerne wieder zurückgedrängt wird. Dafür möchte ich mich in den nächsten Jahren einsetzen."