Am Nockherberg: Ein Viertel im Um- und Abbruch

Im Dreieck Obergiesing, Obere und Untere Au bleibt gerade kein Stein auf dem anderen. Ein Stadtspaziergang, der nachdenklich macht.
Lea Kramer |
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Ein Viertel im Wandel. Im Hintergrund: Die St.-Bonifatius-Straße 1 um 1943.
Stadtarchiv München/Lea Kramer/AZ Ein Viertel im Wandel. Im Hintergrund: Die St.-Bonifatius-Straße 1 um 1943.

München - Nicht erst seit Paulaner angekündigt hat, den Nockherberg verlassen zu wollen, ist der Anstieg hinauf zu Münchens Schotterebene Stadtgespräch. "Dass er auch dem frömmsten Münchner lieber ist als Altötting oder jeder andere noch so heilige Wallfahrtsberg im Lande Oberbayern", schreibt etwa Elfriede Meinhold um die Jahrhundertwende in ihr Tagebuch. Da ist auch heute noch was dran.


Um 1905 herum posieren diese beiden Kinder auf dem gerade neu angelegten Nockherberg. F: Stadtarchiv München

Um diese Zeit, vor etwas mehr als 100 Jahren, erlebt das Gebiet rund um den Nockherberg seine letzte große städteplanerische Wandlung. 1903 wird das Nockherschlösschen abgerissen, das ehemalige Sommerhaus der Bankiersfamilie Nockher, das dem Hügel seinen Namen gab. Beides geschah im Zuge der Bergregulierung. Zwölf Prozent Steigung sollten nicht einmal die neu eingemeindeten Arbeiter aus dem Herbergsviertel rund um das Isarhochufer regelmäßig überwinden müssen.

Aus dieser Zeit stammen auch die Treppen, die die Obere Au, die Untere Au und Obergiesing – Kesselhaus und Eiswerk – miteinander verbinden. Oben und unten muss heute nicht mehr zwingend verknüpft werden. In den kommenden Jahren wird sich das Gebiet rund um den Nockherberg komplett verändern. Was bleibt vom einstigen Arbeiterviertel? Ein Rundgang entlang alter Klostermauern und ehemaliger Lagerkeller.

Los geht’s an der Hochstraße.

Gourmetküche im Wirtshaus


Bis 2018 zu: Der Paulaner Garten. F: Lea Kramer

Seit 1634 wird am östlichen Isarhochufer Bier gebraut. Ausgeschenkt wird das Paulaner unter den großgewachsenen Kastanien im Paulanergarten an der Hochstraße. Der Biergarten wird derzeit kernsaniert. Im Februar 2018, pünktlich zum Salvatoranstich, soll alles fertig sein – inklusive neuer Wirte. Nach 27 Jahren meldet sich Peter Pongratz vom Nockherberg ab. Er macht Platz für Christian Schottenhamel, bislang Pächter des Löwenbräukellers, und "Moarwirt"-Betreiber Florian Lechner.

Richtig viel wollen alle Beteiligten noch nicht über den "neuen" Paulaner verraten. Der Festsaal soll größer werden, die Gaststätte modernisiert, ein Teilabriss ist möglich. In der hauseigenen Brauerei soll ein Nockherberg-Bier gebraut werden. Klassischen Schweinsbraten wird’s schon noch geben – "kulinarisch erwartet der Gast aber mehr", sagt Schottenhamel. Die bayerische Küche werde im Restaurant zukünftig modern interpretiert. Es ist der zweite große Neu- und Umbau. 1999 wurde der damalige "Paulanerkeller" durch einen Brandanschlag zerstört. Bis 2003 wurden die Gebäude für 25 Millionen Euro wieder aufgebaut.

Am Freisitz geht’s die Treppe runter entlang der Ohlmüllerstraße über den Auer Mühlbach.

Wohnen im Frauenknast


Denkmal für Wohnkultur: Das künftige "Haus Mühlbach" in der alten JVA Neudeck. F: Lea Kramer

Es soll ein "Denkmal für Wohnkultur" werden, das Haus am Mühlbach. Wenn es nach dem Bauherren "Legat living" geht, ziehen "Anspruchsvolle", die "Wert auf Qualität" legen, ein in den Komplex an der Ecke Ohlmüllerstraße/Am Neudeck.

Dass es sich bei dem herrschaftlichen Baudenkmal um die frühere Justizvollzugsanstalt Am Neudeck handelt, steht freilich nirgends. Auch nicht, dass hier im März 1943 nach den Verhören im Gestapo-Gefängnis Wittelsbacher Palais zeitweilig Mitglieder der Weißen Rose wie Alexander Schmorell und Kurt Huber bis zu ihrem Prozess vor dem Volksgerichtshof inhaftiert waren. Auch nichts darüber, dass das Gebäude seit acht Jahren leer steht. Und freilich auch nichts über die Klagen, die das angrenzende Landratsamt gegen vorherige Planungen angestrengt hatte.

Vor einigen Jahren wollten die Macher der Obdachlosenzeitschrift "Biss" das Gelände kaufen. Ein Hotel, in dem junge Menschen aus schwierigen Verhältnissen eine Ausbildung machen können, wollten sie dort einrichten. Gescheitert ist das Projekt am Haushaltsausschuss im Landtag. Der lehnte es trotz gesicherter Finanzierung mehrheitlich ab. Den Zuschlag bekam ein Investor, der 16 Millionen Euro für das Gebäude bezahlt haben soll. Geplant waren luxuriöse Studentenapartments, Concierge-Service und Fitnessstudio inklusive. Mittlerweile ist davon keine Rede mehr.

Dass der marode neoklassizistische Bau von 1902 dieses Frühjahr erneut den Besitzer gewechselt hat, hat auch sein Gutes. Es bewegt sich was am Auer Mühlbach, wenigstens die Bagger fahren vor. Nach Angaben des Immobilienunternehmens sind 128 Wohnungen im Luxussegment geplant, 124 davon mit einer Größe zwischen 23 und 50 Quadratmetern sowie vier größerer Dachgeschosswohnungen. Diese werden im bestehenden Gebäude eingerichtet, einen Neubau soll es nicht geben, weshalb auch keine Sorge vor erneuten Klagen besteht. Über den Kaufpreis herrscht Stillschweigen. 2020 sollen die Bewohner einziehen können.

Über die Straße auf die andere Seite, am neuen, alten Paulanerverwaltungssitz vorbei und den Berg hinauf.

Getränke aus dem Klohäusl


Früher ein Klohäusl – jetzt wird ein Kiosk drauß. F: Lea Kramer

Die Mauer, die den Kronepark umgibt, ist Radlern vermutlich gut bekannt. Wer sich einmal den Nockherberg hoch gequält hat, kennt dort sicherlich auch – quasi als Markierung der Etappenhalbzeit – das rote Schildchen mit der 00. Das weist auf ein Klohäusl hin, wo längst keins mehr ist. Schon seit Jahren ist das Örtchen stillgelegt. Jetzt regt sich was an dieser Stelle. "Aktuell lässt das Kommunalreferat Ver- und Entsorgungsleitungen legen", sagt Pressesprecher Bernd Plank. Doch wofür?

Eine Idee, die schon fast wieder in Vergessenheit geraten ist: Das Klohäusl wird zum Kioskstandl – eine Kleinstgaststätte mit Terrasse und Blick über die Au. So hat es Florian Falterer, Betreiber der Riff-Raff-Kneipe in der Tegernseer Landstraße und des Zwischennutzungsbiergartens an der Watzmannstraße, seit 2014 geplant. Damals schlug er das Konzept im Bezirksausschuss vor und erhielt positive Signale. Momentan gleicht die Bedürfnisanstalt einer Ruine, der gesamte Boden ist aufgegraben. Wenn die neuen Leitungen und der Boden verlegt sind, geht’s an den Innenausbau. "Wir werden nicht vor Frühjahr aufmachen. Da ist dann auch die richtige Zeit für den Bar-Kiosk nach südeuropäischem Vorbild ", sagt Falterer. Ein Klo wird es darin ebenfalls geben, auch um dem Missverhältnis zwischen Biesldrang und öffentlichen Toiletten im Viertel entgegenzuwirken.

Immer geradeaus die Ohlmüllerstraße hoch.

Das erste Haus im Viertel


Lange eine Institution – jetzt ist auch der legendäre Kiosk in der St.-Bonifatius-Straße zu. F: Lea Kramer

Die St.-Bonifatius-Straße beginnt an der Brücke, unter der die Züge des Eisenbahn-Südrings in Richtung Rosenheim und Salzburg durchrauschen. Die Hausnummer eins war jahrelang eine besondere. Das liegt auch an der denkmalgeschützten Architektur des buchstäblich ersten Hauses in Obergiesing. Der halbrunde Turm mit gekrümmtem Walmdach, Erkern und konkav einschwingendem Eckpavillon sowie den Eisenbalkonen stammt im Kern aus der Zeit um 1900. Während der Bombenangriffe im II. Weltkrieg wurde das Haus schwer getroffen, aber nach 1943 wieder aufgebaut.

Damals stand das Haus noch in der Emeranstraße. Nach dem Heiligen Bonifatius, dem Missionar der heidnischen Germanen, wurde sie erst 1951 im Zuge der Erweiterung des Ostfriedhofs benannt. Seit einigen Monaten, wenn nicht Jahren, soll das Gebäude saniert werden. Geplant war der Beginn der "Instandsetzung und Modernisierung von zwei denkmalgeschützten Wohngebäuden mit Läden" im Oktober 2016, so ist es zumindest auf der Seite des beauftragten Ingenieurbüros zu lesen. Eine Auskunft über den Stand der Bauarbeiten will die Firma auf AZ-Anfrage "aus vertraglichen Gründen" nicht geben.


Die St.-Bonifatius-Straße 1 um 1943. F: Stadtarchiv München

Fest steht, das Landesamt für Denkmalpflege sowie die Untere Denkmalschutzbehörde der Stadt haben das Projekt eng begleitet und waren bei mehreren Ortsterminen dabei. Aus dem Viertel ist zu hören, dass das Wohngebäude luxussaniert werden soll. Renitenten Mietern würden Abfindungen angeboten, damit sie ausziehen. Ganz was Neues. Das Anwesen ist aus einem weiteren Grund außergewöhnlich. Im Vorgarten des Hauses steht seit fast 70 Jahren ein kleines Holzhäusl. Und darin ist ein Kiosk. Obwohl es bis vor zwei Jahren mit der Verlegung der Haltestelle der Trambahnlinie 17 wenig Publikumsverkehr an der Stelle gab, war das Häusl eine Institution.

Der Betreiberin Eva Klein war die ungünstige Lage stets egal. Sie hatte ihre Stammkunden. Die freuten sich nicht nur über die originale Atmosphäre, die an dem Standl herrschte, sondern auch über den übergroßen Plüschtiger, der im Vorgarten über den Kiosk wachte. In einem Interview sagte Eva Klein einmal: "Ich lass mich durch nichts beirren! Ich geh meinen Weg und lass mir von niemanden dreinreden." Jetzt geht auch diese Ära zu Ende.

Klein, inzwischen Ende 70, hat aufgehört. Der Tiger ist weg, das früher braune Hölzhäusl hat einen weiß-blauen Anstrich bekommen. Bald wird ein neuer Pächter durch das Rolladenfenster auf die Bahntrasse schauen und sich vermutlich ebenfalls über die Pilger wundern, die jedes Frühjahr zur Berg-Wallfahrt ziehen.

Die St-Bonifatius-Straße entlang, an der Kreuzung links halten, dann links in die Hiendlmayrstraße an der Paulaner-Baustelle entlang und rechts in die Ruhestraße.

Kein Stein mehr auf dem anderen


Der alte Steinmetz in der Ruhestraße – er ist längst umgezogen. F: Lea Kramer

Gleich neben dem Paulanergelände gibt es eine unscheinbare kleine Straße. Ihr Name ist ebenso zurückhaltend wie ihr Anschein: Die Ruhestraße lag einst direkt neben dem alten Auer Friedhof. Daher auch der Name. Fast genau so lange, seit 1875, gab es an der Hausnummer 8 bis 10 einen Steinmetzbetrieb. Bis September 2016 führte ihn Alfred Herklotz in zweiter Generation. Er hatte das Geschäft von seinem Schwiegervater übernommen. Der wiederum bearbeitete seit 1972 Grabsteine an der Ruhestraße.

2015 wurde Herklotz vom Besitzer, einer Erbengemeinschaft, der Pachtvertrag gekündigt. Der Betrieb zog mitsamt seiner Steine sowie den Mitarbeitern raus nach Englschalking. Was mit dem leeren Grundstück in der Au passiert, weiß der ehemalige Pächter nicht. Ein Schild weist das heruntergekommene Gebäude auf dem Gelände als "zum Abriss bereit" aus. Die Bodenverhältnisse werden als "teils riskant" beschrieben. Auf der Straßenseite gegenüber wurde eine solch freies Stück Land 2012 vom Grünwalder Bauträger BHB unter dem Namen "NJoy – Wohngenuss am Nockherberg" mit 1,5- bis 4-Zimmer-Wohnungen für "gehobene Ansprüche" bebaut.

Platz dafür wäre da. Ob auch Bedarf dafür besteht?

Lesen Sie auch: In der Au entstehen 1.500 neue Wohnungen

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