Emotionen in der Mittelklasse
München - Alfa Romeo hat in der beeindruckend kurzen Entwicklungszeit von nur drei Jahren nach langer Abstinenz wieder eine Mittelklasse-Limousine auf die Räder gestellt. Und sie ist das erste Auto mit Hinterradantrieb, nachdem der Alfa 75 Mitte der achtziger Jahre dieses Antriebskonzept zumindest bei dieser italienischen Sportwagenmarke zum Auslaufmodell gemacht hatte.
Jetzt also ist Alfa Romeo wieder auf alten und bewährten Pfaden unterwegs. Das weckt die Hoffnung, dass Fiat-Chef Sergio Marchionne den Traditions-Hersteller weniger schändlich behandelt als die mittlerweile so gut wie aufgegebene Marke Lancia. Denn die neue Giulia hat Potenzial. 4,63 Meter lang ist die fein gezeichnete Karosserie, der Airsplit-Lufteinlass vorn betont den klassischen Alfa-Kühlergrill, schlanke Scheinwerfer mit Bi-Xenon- und LED-Licht greifen bekannte und geschätzte Formen auf. Die Silhouette ist kraftvoll, Leichtmetallräder sind Standard und das sanft geneigte Heck stärkt den Rücken der Giulia.
Im Innenraum herrscht vorne Großzügigkeit, hinten sitzt nicht jeder Großgewachsene komfortabel. Immerhin öffnen die Türen weit, so fällt das Ein- und Aussteigen leicht. 480 Liter Gepäck passen in den Kofferraum, die Rücksitzlehnen lassen sich zum Durchladen von sperrigem Transportgut umklappen. Das Cockpit hat Alfa klassisch geformt. Zwei analoge Rundinstrumente bilden das Zentrum, alle wichtigen Bedienungselemente einschließlich einer Start-Stopp-Taste sind im Lenkrad integriert. Der Monitor in der Mittelkonsole ist mit knapp 17 Zentimeter Bildschirmdiagonale nicht der größte seiner Klasse, reicht für Navigationsanzeigen und Darstellungen relevanter Fahrzeugdaten aber völlig aus. Übergroß sind dagegen die Schaltwippen am Volant, mit denen sich die acht Übersetzungen des Automatikgetriebes sequenziell anwählen lassen. Wer die Mehrkosten des Automaten von 2250 Euro scheut, schaltet sechs Gänge manuell.
Alle Giulia-Versionen sind mit dem Fahrdynamik-Programm DNA ausgestattet. Zur neutralen Einstellung gesellt sich die Dynamik-Stufe, die das Ansprechverhalten des Motors und die Lenkkräfte beeinflusst. Die Wahl des Öko-Modus aktiviert die Segelfunktion des Automatikgetriebes. Später soll außerdem eine adaptive Fahrwerksregelung folgen. Jetzt schon an Bord sind die gängigen Assistenzsysteme mit Notbremsfunktion, Fußgängererkennung, Spurhalte-Wächter sowie eine automatische Geschwindigkeitsregelung. Gedulden muss sich der Giulia-Verehrer auch bei Dingen der Konnektivität. Android-, Apple- und Google-Anbindungen für Smartphones sind noch in Vorbereitung, in drei Jahren Entwicklungszeit lässt sich eben doch nicht alles gleichzeitig zur Serienreife bringen.
510 PS im Spitzenmodell
Die Motorenpalette der Giulia ist zunächst auf einen 2,2-Liter-Diesel beschränkt, der in drei Leistungsstufen angeboten wird. Er ist der erste von Alfa Romeo gefertigte Vollaluminium-Selbstzünder und liefert als Basisversion 136 PS und 380 Newtonmeter Drehmomentspitze (33 100 Euro). Auf 150 PS bringt es die kräftigere Version für 34 100 Euro, die ein gleich hohes Drehmoment abgibt. Vorläufiger Spitzendiesel ist der 180 PS und 450 Nm Drehmoment leistende Vierzylinder, mit dem die Giulia 37 400 Euro kostet. Im Herbst sollen zwei Vierzylinder-Turbobenziner mit zwei Liter Hubraum und 200 sowie 280 PS folgen. Außerdem die Allrad-angetriebene Veloce-Version, die unter anderem als Diesel mit 210 PS angeboten werden soll.
Auch dann noch wird der heute einzige Benziner, ein V6 mit 2,9 Liter Hubraum und 510 PS, in der Giulia Quadrifoglio eine Sonderstellung einnehmen. Dank Motorhaube und Dach aus Carbon, Kotflügeln vorn und allen vier Türen aus Aluminium kommt sie auf 1580 Kilogramm und 2,93 PS/kg Leistungsgewicht. Auch ihr Motor ist eine Neuentwicklung und mit einem Zylinderwinkel von 90 Grad kein Ableger des Dreiliter-Triebwerks der Schwestermarke Maserati. 600 Nm Drehmoment gibt das doppelt aufgeladene Aggregat ab, es beschleunigt die Giulia Quadrifoglio in 3,9 Sekunden von 0 auf 100 und macht das Spitzenmodell 307 km/h schnell.
Für höheren Anpressdruck fährt vorn eine Spoilerlippe bei 120 km/h elektrisch aus, an der Hinterachse wirkt ein elektrisch betriebenes Sperrdifferenzial dem Radschlupf entgegen und versorgt obendrein das kurveninnere Rad mit höherem Drehmoment. Das hilft beim Herausbeschleunigen aus Kurven wesentlich. Der Preis des Topmodells bewegt sich in Gefilden, die Fahrern eines BMW M4 oder eines Mercedes C63 AMG als eher günstig erscheinen dürften - 71 800 Euro verlangt Alfa Romeo für das Paradestück.
Während die Giulia Quadrifoglio auf einem Rundkurs ebenso gut wie auf öffentlichen Straßen aufgehoben ist, geben die ebenfalls Mitte Juni bei den Händlern erscheinenden Diesel eine kaum schlechtere Figur ab. Besonders die 180-PS-Version beweist flinken Antritt, die Lenkung ist die wohl direkteste in dieser Klasse und der Federungskomfort keineswegs minderbemittelt. Zwar raunzt das Triebwerk in allen Lebenslagen vernehmlich vor sich hin, klingt dabei aber eher kraftvoll als angestrengt. Leichtes Hakeln stört beim handgeschalteten Sechsganggetriebe, die sanft und präzise arbeitende ZF-Automatik ist zweifelsohne die bessere Wahl.
Die Ziele, die Alfa Romeo mit der Giulia verfolgt, sind anspruchsvoll. 4000 Exemplare will die Marke in Deutschland innerhalb von zwölf Monaten verkaufen. Insgesamt soll der Absatz der Fiat-Tochtermarke im nächsten Jahr auf 400 000 Einheiten auf dem Globus steigen, im vergangenen Jahr waren es noch 70 000. Entscheidend für das Erreichen des Ziels wird die Akzeptanz sein, die Alfa Romeo auf den Märkten in China und den Vereinigten Staaten widerfährt. Im Reich der Mitte wollen die Italiener erstmals, in Amerika erneut antreten. Zu wünschen ist ihnen der Erfolg, denn ohne den würde auch der klangvollste Name nicht vor den unerbittlichen Entscheidungen von Unternehmenschef Marchionne schützen.