Unsere Besten! Die AZ-Sterne des Jahres
Die AZ-Kulturredaktion hat wieder ihre Highlights aus dem Kultur-Jahr 2021 gekürt – mittlerweile zum 49. Mal. Sehen Sie hier, was uns bei Theater, Musik, Kunst, Film & Co. am meisten berührt hat.
Theater: Regisseur Stephan Kimmig

Schon zweimal hat Stephan Kimmig sich mit den Stücken der niederländischen Autorin Judith Herzberg auseinandergesetzt. Am Residenztheater folgte nun der dritte Streich: Unter dem Titel "Die Träume der Abwesenden" (Thomas Lettow, Liliane Amuat) brachte Kimmig Herzbergs Trilogie über eine jüdische, vom Holocaust traumatisierte Großfamilie aus Amsterdam (plus einen kurzen neuen Monolog) auf die luftige Bühne, mit einem fantastisch spielfreudigen Ensemble, das die Tragik und Komik von Herzbergs Trilogie zum Leuchten bringt, und einer Leichtigkeit, dass fünf Stunden wie im Flug vergehen.
Kabarett: Pigor und Eichhorn

Das ist kein fucking Stream im Internet - Hallo! Das ist Kabarett!" So energisch begrüßten Pigor und Eichhorn das Publikum bei ihrem novemberlichen Auftritt im Lustspielhaus und fegten jeden Herbst- und Corona-Blues weg. Seit 1995 pflegt das Berliner Duo die hohe Kunst des politischen Musikkabaretts, mittlerweile sind sie beim zehnten Programm, "Volume X", und begeistern wieder mit bissigem Witz und pfiffigen Chansons auf der Höhe unserer Zeit. Thomas Pigor singt und steppt wie ein junger Gott, Benedikt Eichhorn begleitet virtuos am Flügel. Dem Publikum bringen sie nebenbei ein paar tolle rhetorische Kniffe bei, alles grooved und funkelt, die Lieder, die Pointen.
Filmkomödie: "Contra" von Sönke Wortmann

Das Wort "Vorurteil" sagt genau, was man in "Contra" erleben kann: eine Meinung über einen Menschen zu haben, bevor man etwas über den anderen weiß. Komödien spielen oft gefährlich mit Vorurteilen und Klischees. Aber weil "Contra" ein besonders intelligenter Film ist, geht man bewegt, vielleicht sogar weniger vorurteilsbeladen, jedenfalls aber vorsichtiger aus diesem beglückenden Film heraus. Sönke Wortmann gelang schon mit "Der Vorname" eine geniale Eindeutschung einer französischen Erfolgsvorlage. Die beiden Milieus, die sich jetzt aneinander reiben, repräsentieren ein konservativer Jura-Professor (Christoph Maria Herbst) und eine prekär lebende junge Migrantin (Nilam Farooq). Dass letztlich beide ums gesellschaftliche Überleben kämpfen, ist ein Clou der Geschichte. Die dynamische Inszenierung, vorwärtstreibende Filmmusik und witzige Szeneneinfälle machen den Film mit seinen großartigen Schauspielern zum geistreichen Kinospaß.
Kinderbuch: Die Welt der Hilma af Klint

Dass sie ihr erstes abstraktes Gemälde fünf Jahre vor Wassily Kandinsky gemalt hat, dürfte Kinder kaum beeindrucken. Hilma af Klint hat einfach wundervolle Kringel gemalt, die tollsten Farben kombiniert und sich überhaupt einen fantastischen Bilderkosmos ausgedacht. Der erinnert an Mond und Sterne, manchmal sogar an die Mengenlehre in der Schule und kommt nicht von Ungefähr. Von ihrem Kapitäns-Vater lernt Hilma die Navigation, Botanik oder Mathematik. Ylva Hillström und Karin Eklund schildern das in ihrem Bilderbuch "Die Unsichtbare Welt von Hilma af Klint" (E. A. Seemann Verlag) so anschaulich und anregend, dass man sofort den Pinsel in die Hand nehmen will.
Ausstellung: Nevin Aladag - Sound of Space

In Franz von Stucks Musiksalon ist ein Möbel-Orchester eingezogen: Die Kommode spielt Cello, der Lehnstuhl ist eine Doppel-Saz und der Garderobenständer fungiert als Harfe. Nevin Alada bringt die ehemalige Künstler-Villa zum Klingen. Dass ihr für die Ausstellung "Sound of Spaces" das ganze Haus zur Verfügung steht, ist ein Glücksfall. Das Werk der 1972 in Van geborenen und in Stuttgart aufgewachsenen Nevin Alada, die an der Münchner Akademie studierte, passt hier inhaltlich und ästhetisch perfekt und offenbart sich in faszinierender Vielseitigkeit. Ihre Kunst wirkt akustisch und visuell, ist pointiert und poetisch. Sie schenkt uns unwirklich mystische Momente.
Kulturzentrum: Gasteig HP8

Über die Schönheit seines Namens kann man streiten, über das Kulturzentrum in Sendling nicht. Das Gasteig HP8 hat einen für München ungewohnten Industriecharme. Die ehemalige Trafohalle an der Hans-Preißinger-Straße gegenüber dem Heizkraftwerk Süd ist Filiale der Stadtbibliothek und zugleich Foyer der akustisch gelungenen Isarphilharmonie. Die anderen, noch nicht ganz fertigen Bauten auf dem Gelände versprechen eine Steigerung des Ineinanders von VHS, Bibliothek, Musikhochschule und Konzertsaal. Zum vollendeten Glück fehlt nur noch eine bessere Busverbindung in der Nacht - und die Hauptsache: der Beginn der Sanierung des "alten" Gasteig in Haidhausen.
Schauspielerin: Katharina Bach

Das zweite Pandemie-Jahr mag für manche Schauspielende ein mageres gewesen sein, zumindest, was das Dasein auf der Bühne angeht. Katharina Bach hingegen, Ensemblemitglied der Kammerspiele, hat nicht nur irre viel gespielt, sie hat auch jedes Mal irre gut gespielt. Ob sie sich nun im Sprachjazz-Abend "Die Politiker" wortrasant und kletternd-turnend verausgabte, in "Gespenster" eine aparte, freisinnige Erika Mann spielte oder in "Eure Paläste sind leer" mit ihrer Energie furios den Raum füllte und mit den anderen die Puppen tanzen ließ - Katharina Bach hat sich immer wieder im Auge festgesetzt, zeigte sich stets durchlässig für jede Spielsituation, allzeit bereit, alles zu geben. Trompete spielen kann sie auch noch, und im Januar singt sie im Schauspielhaus Lieder von Nick Cave. Was kann sie eigentlich nicht?
Schauspieler: Robert Dölle

Ein Mann kocht in seiner Küche Orangenmarmelade ein. Dabei erzählt er von einer Reise mit seinem Vater. Während der Ferien auf einer Mittelmeer-Insel ertranken 500 Flüchtlinge. Robert Dölle spielt den Ich-Erzähler des Romans "Schiffbruch vor Lampedusa" von Davide Enia in lockdownbedingten Livestreams zwar für exklusive Zuschauergemeinden in Zoom-Konferenzen. Aber die 70 Minuten vor dem Heimcomputer gehören zu den triftigsten und eindringlichsten der aktuellen Theatersaison. Unter dem Titel "Finsternis" und der Regie von Nora Schlocker gibt Dölles Solo ebenso schmerzvoll wie pathosfrei den Blick frei auf Unmenschlichkeit im Namen der europäischen Werte. Dazu nutzt der 40-Jährige die Kamera mit forderndem Blick zu intensivem Kontakt mit dem Publikum.
Klassik: Jakub Hrusa

Im Musikbetrieb herrscht bisweilen der Irrglaube vor, der Praktiker müsse sich um Fassungen und Varianten zum Notentext bekannter Werke nicht kümmern. Die 4 CDs der Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jakub Hru(s)a für das Label Pentatone beweisen das Gegenteil: Hier ist endlich einmal das gesamte Material zu hören, das Anton Bruckner zu seiner Symphonie Nr. 4 ("Die Romantische") hinterlassen hat. Nichts davon ist schlechter oder besser als die finale Version: sondern nur anders. Und das ist eben nicht nur für Musikwissenschaftler und ihre Oberseminare interessant, sondern für jeden Hörer, der sich für die Symphonien von Anton Bruckner interessiert. Hinzu kommt: Hru(s)a ist als Dirigent nicht nur auf Vollständigkeit bedacht. Sein Bruckner ist nie routiniert. Die Musik hat Maß und eine Mitte, wie man sie nur selten hört.
Dokumentarfilm: "Die Unbeugsamen"

Lautes Gelächter und Gejole, Schenkelklopfen, auf Bänke hämmern und obszöne Zwischenrufe wie "Du willst es doch nur besorgt bekommen". Wer bei dem Getöse glaubt, ein tobender Männerstammtisch fröne seiner Frauenverachtung irrt - es ist der Bundestag des Jahres 1983. "Die Unbeugsamen" von Regisseur Torsten Körner ist ein augenöffnender Rückblick auf die Bonner Republik, unsere jüngste Vergangenheit und den Emanzipationskampf der Frauen. Das schockierende, teilweise unveröffentlichte Archivmaterial zeigt, was los war im Hohen Haus und zeichnet von den 1950er Jahren bis zur Wiedervereinigung eine Epoche sexueller Diskriminierung und Demütigung. Dazu kommen bittere, absurde, auch humorige Erinnerungen an westdeutsche Politik in den zahlreichen Interviews mit damaligen Politikerinnen, die sich mutig gegen Männermacht stellten und sich über die Parteigrenzen hinweg solidarisierten.
Literatur: "Jaffa Road" von Daniel Speck

Nach zweieinhalb Jahren Recherche und Schreibarbeit hat der Münchner Autor Daniel Speck mit "Jaffa Road" (S. Fischer, 672 Seiten., 16,99 Euro) den Schlusspunkt hinter ein außergewöhnliches Romanprojekt gesetzt: Die packende und politisch brisante Familiensaga setzt kurz vor der Staatsgründung Israels ein. Specks mitreißend erzählter Epos umspannt ein halbes Jahrhundert und führt auch nach München, zum Olympia-Attentat 1972. "Jaffa Road" ist die Fortsetzung von Specks Bestseller "Piccola Sicilia", kann aber auch ohne den Vorgänger gelesen werden. Der Autor packt mit den beiden Romanen den zentralen Konflikt des 20. Jahrhunderts in einen Familienroman, der ebenso klug wie spannend erzählt ist. "Piccola Sicilia" und "Jaffa Road" sind der insgesamt über 1300 Seiten starke Versuch, das eng miteinander verzahnte Leben von Menschen dreier Religionen zwischen Toleranz und Vernichtung, Flucht und Neuanfang aufzuschreiben. Selbst das erzählerische Minenfeld der konfliktreichen Staatsgründung Israels durchquert Speck souverän. Denn die Politik bestimmt in diesem Roman das Leben und die Liebe.
Sachbuch: Faszinierende Mathematik

Mathematik kann spannend sein - wenn man sie kapiert. Andernfalls führt das in der Schule schnell zu traumatischen Erlebnissen. Dass man dieser Disziplin eine zweite Chance geben sollte, demonstriert der Physiker und Journalist Thomas de Padova in seinem unterhaltsamen Buch "Alles wird Zahl. Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand" (Hanser, 384 S., 25 Euro). Seine Helden sitzen noch nicht im Elfenbeinturm, wollen die Welt erfassen und haben oft ganz irdische Beweggründe: Girolamo Cardano zum Beispiel war spielsüchtig und hat die Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelt.
Architektur: Das neue Volkstheater

Es kommt nicht so oft vor, dass man sich schon Monate vor der Fertigstellung in einen Bau verguckt. Genau das ist uns aber im Volkstheater passiert - Liebe auf den ersten Blick könnte man das nennen. Oder "Glücksmomente im Wunderland". Das war damals die euphorische Überschrift, die man sich schon zweimal überlegt. Wo einst das Vieh gehandelt wurde, steht nun auf einer Fläche von insgesamt 9500 Quadratmetern das neue Theater mit drei Spielstätten, Probebühne, Werkstätten und Büros, Restaurant, Biergarten sowie Künstler-Apartments und Kindertheaterwerkstatt. Dabei haben die Architekten Lederer, Ragnarsdóttir und Oei wieder einmal städtebauliche Sensibilität, kontrastreiche Materialität, solide Bau- und hohe Raumqualität kombiniert. Dazu kommen der Mut zur großen Form wie die Liebe zum Detail. Die Sensation: Trotz Corona ist es gelungen, das Theater pünktlich und ohne Budgetüberschreitung für 131 Millionen Euro zu vollenden.