Urknall beim Münchener Kammerorchester
Einen Befreiungsschlag kann man hören. In solchen Momenten klingt ein Orchester wie ausgewechselt. Da wird ein musikalisches Feuerwerk entfacht: brillant und transparent die Farbgebung, vorwärts drängend der Puls, kontrastreich die Dynamik. Selbst ein längst etablierter Klangkörper entfaltet eine Kraft, die einem veritablen Urknall gleicht.
Münchner Kammerorchester befreit sich vom Chefdirigenten-Egokult
Eine derartige Stunde Null wurde der Saisonauftakt beim Münchener Kammerorchester im Prinzregententheater. Die Musiker haben sich befreit, vom Chefdirigenten-Egokult der alten Zeit, der immer die Orchesterlandschaft prägt: zumal im elitären, ausgeprägten Zentrismus in München. Das MKO hat diese Tradition überwunden, um zu einer eigenen Lösung zu finden. In den kommenden drei Jahren arbeiten sie nicht mit einem Chefdirigenten, sondern es wirken drei Persönlichkeiten gemeinsam mit dem MKO: Jörg Widmann, Bas Wiegers und Enrico Onofri.
Sie weisen künstlerisch unterschiedliche Profile auf, setzen jeweils eigene Schwerpunkte. Genau das ist die große Chance, denn: Keine Dirigenten-Persönlichkeit beherrscht die gesamte Breite des Repertoires gleichermaßen gut. Nun gehören Konzertmeister-Programme ohne Dirigent längst zur MKO-DNA, aber: Mit diesem Dreier-Modell betritt das MKO in der Orchesterwelt Neuland.
Echter "Aufbruch" hörbar: Eröffnungskonzert hält, was das Motto verspricht
Für diesen Schritt braucht es Mut. Es ist kein Geheimnis, dass auch die Berliner Philharmoniker vor der Entscheidung für Kirill Petrenko mit einem ähnlichen Modell liebäugelten. Auch beim MKO reifte die Idee länger. In der Pandemie wurde sie eine Realität. Die Rechnung geht offenbar auf: Wer frische Konzerterlebnisse generieren will, mit Interpretationen, die so wirken, als würden Werke gerade erst komponiert, der muss die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen.
Das Eröffnungskonzert hat gehalten, was das Motto der neuen MKO-Saison verspricht. Hier war ein echter "Aufbruch" hörbar: mit Onofri am Pult und den zwei MKO-Konzertmeistern Daniel Giglbeger und Yuki Kasai. Dabei wurde Wolfgang Amadeus Mozart mit Luciano Berio verknüpft. Es war das MKO, das aus sich selber heraus glänzte. Jedenfalls wurden vor allem die "Posthorn-Serenade" KV 320 und die dazu gehörenden beiden Märsche KV 335 (320a) zu einem unerhörten, überwältigenden Aha-Erlebnis. Wie allein die Holzbläser die Farben nuancenreich ausschattierten und in der Dynamik fein differenzierten, das war eine schiere Freude.
In Verbindung mit der historisch informierten Artikulation und Phrasierung der Streicher erwuchsen ungeahnten Klanglichkeiten. Kein anderes Orchester in München beherrscht gegenwärtig Mozart derart zeitgemäß und aufregend neu. Das war Lichtjahre entfernt von der gähnenden Routine, die man sonst an der Isar in diesem Repertoire zu hören bekommt. Dieser Farbenrausch setzte sich in den 1964 vollendeten "Folk Songs" für Mezzosopran und Orchester von Berio mit der überragenden Solistin Marie-Claude Chappuis fort.
Ihrer Stimme hört man an, dass sie agil und flexibel zwischen Zeiten und Stilen zu changieren versteht. Als Sängerin ist Chappuis auch in der Barock- und Originalklang-Szene unterwegs, um diese Kenntnisse ebenso auf die Moderne und die zeitgenössische Musik zu übertragen. Bei Berio ist ein kleines Wunder geschehen: Die Begleitschicht des Orchesters und das folkloristische Kolorit des Gesangs sind zu einem organischen Klangkörper verschmolzen.
Als Zugabe sang Chappuis das Volkslied "Liauba" aus ihrer schweizerischen Heimat, mit Franz Draxinger am Alphorn. Dieses Lied, die heimliche Hymne der französischen Schweiz, ist auch auf der hörenswerten CD "Au Coeur des Alpes" von Chappuis beim Label Sony vertreten. Sonst aber bleibt von diesem MKO-Saisonauftakt vor allem eines: Hier hat sich ein Orchester hörbar neu erfunden. Das ist aufregend und spannend, überdies auch kulturpolitisch ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten.