Jakub Hrusa und die Bamberger Symphoniker: Inspiration und Knochenarbeit
Noch immer bringen für ihre Bruckner-Tradition geschätzte Orchester Gesamtaufnahmen mit neun Symphonien heraus, obwohl der Komponist elf hinterlassen hat. Fast alle Dirigenten verstehen unter der Vierten eine Version, die im Kleingedruckten auf dem Programmzettel als "Fassung 1878/80" bezeichnet wird. Und wenn das Gespräch auf solche Fragen gebracht wird, heißt es fast immer, das sei doch allenfalls für musikwissenschaftliche Seminare interessant, nicht aber für Musiker und schon gar nicht für Konzertbesucher.
Darum ist die Neuaufnahme ein Meilenstein
Es ist zwar nicht so, dass es keine Aufnahmen anderer Versionen von Anton Bruckners Symphonie Nr. 4 gäbe: Kent Nagano hat zum Beispiel vor zehn Jahren mit dem Bayerischen Staatsorchester die Urfassung von 1874 aufgeführt und auch auf CD eingespielt (Sony bzw. Farao Classics).
Trotzdem ist die Neuaufnahme dieses Werks mit den Bamberger Symphonikern unter ihrem Chefdirigenten Jakub Hrusa ein Meilenstein. Denn sie enthält auf vier CDs nicht nur die Urfassung und die gängige Version, sondern das komplette hinterlassene Material Bruckners zu dieser Symphonie, darunter auch zwei weniger bekannte Versionen des letzten Satzes und die bisher weniger beachtete dritte Fassung von 1887.
In der Neunten setzt eine Altersradikalisierung ein
Und das ist eben nicht nur für Musikwissenschaftler interessant, sondern für alle, die sich für Bruckners Musik interessieren. Denn in dieser Symphonie bastelt der Komponist - wie in der ebenfalls mehrfach umgearbeitete Dritten - an der monumentalen Klangsprache, die dann die Nummern Fünf bis Acht bestimmt, ehe dann in der Neunten eine Altersradikalisierung einsetzt, von der niemand weiß, wohin sie geführt hätte, weil der letzte Satz unvollendet blieb und zum Teil auch verschlampt wurde.
In der Urfassung der Vierten fehlt noch das Jagd-Scherzo. Der erste Satz enthält viele kontrapunktische Passagen. Die hat Bruckner wieder entfernt, um in der Fünften wieder auf diese Technik zurückzukommen. Der langsame Satz wurde komprimiert, und jeder Überarbeitungsschritt des Finales steigerte die Düsternis des Beginns, von dem sich zuletzt dann die triumphale Wiederkehr des Hornrufs aus dem ersten Satz abhebt. Dabei opferte Bruckner allerdings eine sehr reizvolle Ländler-Episode, die ihn wohl dazu bewegte, eine der Versionen mit "Volksfest" zu überschreiben.
Alle diese Versionen haben ihre Vorzüge, keine ist - unvoreingenommen betrachtet - besser. Die bei Orchestermusikern wegen einiger gegen die Geige komponierte Stellen unbeliebte Urfassung hat in den Fugatos einen Zug ins Fantastische und Maßlose, der nicht weniger zu Bruckner passt als die strengere und weniger abschweifende Endfassung der Symphonie.
Doch der Reiz dieser vier CDs erschöpft sich nicht in der Vollständigkeit
Dem Chefdirigenten der Bamberger Symphoniker gelingt eine Synthese auf einer analytischen Sichtweise mit einem eher traditionellen, auf Rundung und Mischung bedachten Klangverständnis. Hrusa meidet den Bruckner-Mystizismus, er kennt auch Vitalität und laizistische Lebensfreude. Die Musik entwickelt sich natürlich, aber der Dirigent macht keinen Kult der Natürlichkeit daraus. Und Wagner bleibt auch aus dem Spiel.
Man kann sich in diesen vier CDs und dem Booklet verlieren, in dem Hruša seine Sicht auf die Musik und der Bruckner-Forscher Benjamin Korstvedt die Unterschiede der Fassungen erklären. Es wäre wünschenswert, wenn die Bamberger Symphoniker die verschiedenen Fassungen der Dritten ähnlich bündeln und es auch im Konzert wagen würden, unbekanntere Versionen zu präsentieren.
Solche Blicke auf Bruckners Schreibtisch trügen dazu bei, das durch Aufführungen in Kirchen geprägte, noch von allerlei Meisterwerks-Weihrauch und katholischen Inspirations-Mysterien geprägte Bild dieses Komponisten zu erden, der an seiner Musik ebenso mühselig gewerkelt hat wie andere Menschen in ihrem Beruf.
Bamberger Symphoniker: Vorzug einer langjährigen Bruckner-Tradition
Bruckners Urfassungen liegen in der Luft: Markus Poschner nimmt sie derzeit mit dem Bruckner-Orchester in Linz auf, auch Vladmir Jurowski dirigierte vor einiger Zeit eine weniger bekannte Version der Dritten in einem Konzert des Bayerischen Staatsorchesters. Aber so gründlich und vollständig wie Hrusa geht keiner seiner Kollegen vor, und die Bamberger Symphoniker verfügen über den Vorzug einer langjährigen Bruckner-Tradition, mit der dieser Chefdirigent kreativ umgeht.
Eine Version fehlt in dieser Aufnahme: die von Bruckner autorisierte Überarbeitung seines Schülers Ferdinand Löwe aus dem Jahr 1888. Sie wurde von vielen Dirigenten auch nach dem Erscheinen der ersten Bruckner-Gesamtausgabe in den 1930er Jahren benutzt. Herbert von Karajan nahm sie noch 1976 in Stereo auf - einschließlich nachkolorierter Streicherfiguren gleich am Beginn und einem Beckenschlag im Finale. Wenn man diese Einspielung heute wieder hört, beschleicht einen der Gedanke, dass sich Interpretationen nicht nur wandeln, sondern dass es tatsächlich einen Fortschritt gibt.
Jakub Hrusa: "Bruckner 4: The 3 Versions" (Bamberger Symphoniker, 4 CDs bei Accentus Musik, in Kooperation mit BR Klassik)
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