Ivo Pogorelich im Prinzregententheater: Ernstmachen mit dem Experimentellen
Jede Wette: Selbst viele erfahrene Hörerinnen und Hörer kämen bei Ivo Pogorelichs aktuellem Rezital allein durch Zuhören nicht darauf, welcher Komponist im Mittelpunkt der Hommage steht. Pogorelich verwehrt nicht nur jede Wiederhörensfreude über bekannte Melodien, bringt von Frédéric Chopin nicht nur stiefmütterlich behandelte Werke mit, sondern auch noch solche, die in das gängige Bild des Komponisten überhaupt nicht hineinpassen. Empfindsame Girlanden, brillantes Walzern oder prachtvolle Polonaisenfanfaren begegnen uns an diesem Abend selten bis gar nicht.

Besonders in der Klaviersonate Nr. 3 h-moll wartet man auf den typischen Chopin-Ton vergebens. In kaum einem anderen Werk wendet er sich so kompromisslos nach Innen, arbeitet er motivisch so konstruktiv und kommt damit seinem Zeitgenossen Robert Schumann so nahe.
Pogorelich potenziert die Schwere dieser Musik
Pogorelich lindert die Schwere dieser Musik nicht etwa, sondern potenziert ihre Schwierigkeit noch, wenn er Takt und Rhythmik fast ausblendet und dem Publikum somit jede Orientierung verweigert. Hier ist alles reine Prosa, und der mittlerweile 63-Jährige lässt uns an Denkprozessen teilhaben. Nicht immer hat dieses Denken auch eine Richtung, der musikalische Fluss kann sogar zum Stillstand kommen oder in einem ewigen Auftakt hängenbleiben.
Eine solche Versunkenheit fesselt natürlich die Aufmerksamkeit. Die Hörerinnen und Hörer im Prinzregententheater vertrauen sich Ivo Pogorelich willig an. Doch selbst, wenn die visionäre Kraft des Kroaten keine Zweifel provoziert, bleiben doch Fragen offen.
Müsste die Polonaise-Fantasie As-Dur nicht irgendwann einen wenigstens angedeuteten Zug nach vorn entwickeln? Das Fantasieren geschieht in atemberaubender Freiheit, doch der Polonaisenschritt kommt im bohrenden Ausbuchstabieren vollends abhanden. Oder: Müssten sich in der Berceuse Des-Dur und der Barcarolle Fis-Dur nicht auch einmal ein sanftes Wiegen und Schaukeln einstellen? Pianistischer Belcanto gar?
Mit seinem kristallen klaren und hellen Ton, seiner statuarischen Haltung und dem durchgehend unerbittlichen Überprononcieren gibt Pogorelich solchem Wohlgefühl keine Chance. Aber er macht eben auch Ernst mit dem Experimentellen und Revolutionären in Chopins Musik. In der Barcarolle gleißen die Glasperlenspiele und der Schlussakkord der dritten Sonate erschreckt, mit klauenhaft gekrümmten Fingerspitzen gemeißelt, wie ein Aufschrei.
Teile des Programms hat Pogorelich auf CD vorgelegt (Sony)
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