Der mit den Bildern spricht
Wenn eine Ausstellung mit seinen Favoriten eröffnet wird – und von Joseph Beuys bis zu Cindy Sherman kommt da einiges zusammen –, dann wandelt Lothar Schirmer zwischen den Gästen. Gerne mit süffisantem Lächeln unterm Schnäuzer, ein Weinglas darf auch dabei sein. Bis vor einigen Wochen war es jedenfalls so. „Meinen Fünfundsiebzigsten durften wir aber noch schön feiern“, wirft Schirmer ein. Nur der Verlagsalmanach sei durch die Corona-Krise später fertig geworden. „Über meine Künstler“ lautet der Titel, Schirmer hat zwei Dutzend seiner fein moussierenden Reden und prägnanten Vorträge zusammengefasst. Das übertrifft die meisten Vernissagen, und den Wein kann man zu Hause auch besser abstellen.
AZ: Herr Schirmer, vermissen Sie das öffentliche Leben, oder tut die Ruhe sogar gut?
LOTHAR SCHIRMER: Na ja, ich genieße schon auch die Ruhe. Doch wie heißt es so schön: Man war immer schon alleine, aber jetzt ist man einsam.
Das Buch „Über Ihre Künstler“ unterstreicht, dass Ihr Verlagsprogramm ein sehr persönliches ist. Hat es deshalb so gut funktioniert?
Es hat eher funktioniert, weil es mir gelungen ist, meine eigene Faulheit zu überwinden und meine Energien zu aktivieren. Bücher zu machen, setzt einen großen Einsatz voraus, weil die Partner – meistens Künstler – in der Regel ganz andere Vorstellungen von sich haben. Das passt nicht unbedingt zu dem, was Sie als Verleger in die Welt tragen können. Aber ich habe mir auch einen Traum erfüllt, und es ist immer noch nicht zum abrupten Erwachen gekommen, von dem man ab und zu träumt, wenn man träumt.
Wird man nicht irgendwann entspannter?
Nein, nein, die Stunde um vier Uhr nachts ist immer die schlimmste. Büchermachen ist jedes Mal eine Terminsache, egal wie lange ein Projekt dauert. Und dann muss es erstens schön sein, und zweitens muss alles richtig sein.
Lagen Sie mit einem Titel schon einmal richtig daneben, oder spricht man darüber nicht?
Man spricht darüber nicht, weil man es sofort verdrängt. Und wenn nicht, dann war alles richtig, nur der Zeitpunkt der falsche… Aber es gibt auch Dinge, die einfach in technischer Hinsicht misslingen. Es geht ja darum, etwas in die Buchform zu übertragen, das in anderer Form vorliegt wie etwa Malerei. Das ist immer eine Interpretation. Würde das ständig funktionieren, wäre man steinreich geworden. Wobei Erfolg immer relativ ist. Manchmal ist man froh, wenn man 1200 Stück verkauft hat, manchmal bei 20 000 Stück.
Welches sind denn Ihre Zugpferde? Isabella Rossellini?
Das erste Buch mit Isabella war ein ganz großer Erfolg. Von ihrer Autobiografie „Some of Me“ hatten wir 40 000 Bücher in sechs Wochen verkauft. Als sie 1997 nach München kam, war das ein Medienereignis. 26 Interviews in drei Tagen! Aber gleich Heinrich Zille, das erste Buch im Jahr 1975, war ein riesiger Erfolg. Und anstatt mit einem Berg Schulden dazusitzen, waren wir relativ flüssig, um weiter zu machen. Wegen Zille kam dann auch Helmut Newton zu uns. Und genauso hat Helmut wiederum viel ermöglicht.
Zum Beispiel?
Newton hat die ganzen Bücher der Becher-Schule finanziert. Ich will da ganz offen sein: Wenn Sie 1200 Exemplare „Hochöfen“ oder „Fördertürme“ von Bernd und Hilla Becher verkaufen, liegt der Umsatz nicht im fünfstelligen Bereich. Was die Zahlen betraf, wurden wir da wieder sehr demütig. Wir hatten ja nichts, das für Stabilität sorgen konnte.
Sie meinen, eine Backlist?
Ja, wir haben im ersten Jahr von der Hand in den Mund gelebt und sind über sehr dünnes Eis gelaufen. Später hat sich dann herausgestellt, dass das Eis gar nicht so dünn war, sondern im Lauf der Zeit immer dünner wurde. Es gab am Anfang keine Konkurrenz, wir waren die einzigen, die Fotobücher verlegten. Dann haben das alle Verlage gemacht. Aber es kam zum Glück immer etwas Außergewöhnliches: Annie Leibovitz hat uns riesige Auflagen beschert, dann Peter Lindbergh mit seinen Models. Immer wenn wir dachten, es geht jetzt nicht mehr weiter, kam wieder etwas Besonderes. Jetzt zum Beispiel ein Buch über Notre Dame, das uns in dieser schrecklichen Zeit bei Laune hält. Und das hat auch zu ganz neuen Einsichten geführt.
Inwiefern?
Notre Dame ist der Muttergottes geweiht, und das letzte Bild im Buch ist eine Marienskulptur aus dem 14. Jahrhundert. Genau diese Skulptur blieb beim großen Brand unbeschädigt. Ich habe mich mit ihr unterhalten, und die Madonna versprach mir, dass sie alle, die am Buch mitarbeiten, besonders schützt. Das hat mich fast schon beruhigt, und das Aufwachen um vier Uhr nachts war nicht mehr so schlimm.
Sind das die Nachwirkungen des rheinischen Katholizismus‘?
Ich bin doch als protestantisches Flüchtlingskind in Köln angekommen, und da war diese Kathedrale natürlich etwas Großartiges. Der Kölner Dom ist doch das Religiöseste an der ganzen Stadt. Beuys war allerdings der Meinung, es sei der Hauptbahnhof.
Was machen Sie eigentlich, wenn Sie um fünf aufwachen?
Dann sehne ich mich nach Pellkartoffeln mit Quark von der Großmutter.
Und um drei?
Dann stehe ich auf, setze mich auf meinen Sessel und schaue mir meine Bilder im herben Licht der Straßenlaterne an. Das sieht dann sehr schön aus. Nach zehn Minuten kann ich wieder aufstehen und einschlafen. In jüngster Zeit betrachte ich meine Bilder in unterschiedlicher Beleuchtung.
Und?
Ich muss zurzeit ein Augenlid mit Rotlicht behandeln, und in diesem Licht sehen die Bilder um einiges besser aus, als ich sie kenne.
Dann tauchen Sie doch Ihre Wohnung in rotes Licht.
Sie wissen ja, gerade Fleischtöne kommen im Rotlicht viel besser. Aber diese Lampe wird sehr heiß, also muss ich das wieder lassen.
Das Sammeln können Sie dagegen nicht lassen. Welche Kriterien müssen denn erfüllt sein?
Ich muss es mögen und bezahlen können. Die Künstler müssen zur Sammlung passen und ihre Werke Bestand haben. Der Eindruck, dass ich sie auch in ein paar Jahren noch kaufen würde, ist entscheidend. Ich erwerbe inzwischen manches, worüber ich mit 20 nur höhnisch gelacht hätte. Jung war ich wirklich radikal, doch es ändert sich alles. Und wenn ich jetzt zum Sitzen in meiner Klausur verdammt bin, ist es ganz schön, dass ich die Bilder um mich habe. Ich kann mich mit ihnen gut unterhalten.
Neben Joseph Beuys, Cindy Sherman oder den Bechers schwärmen Sie für Cy Twombly. Der hatte ein besonderes Verhältnis zu München. Auch wegen Lothar Schirmer?
Da gab es zuerst noch den Galeristen Heiner Friedrich und seinen Clan. Aber in der Kunstwelt, die in München sehr klein ist, habe ich immer für Cy Twombly gepredigt. Twombly war lange Jahre zu einer gewissen Insiderpopularität verurteilt. Und wenn ich an die Wittelsbacher als Kunstmäzene denke, dann war es genau das, was ihn interessiert hat. Twombly war Amerikaner, jung, er wollte in diese Zirkel hinein und mit seinen Bildern in die Pinakothek.
Wie haben Sie ihn erlebt?
Er war eine komplexe Persönlichkeit und damit auch kompliziert – aber nicht so sehr, wie man es von der bildnerischen Seite her glauben würde. Ich war ja noch Schüler, als ich ihn 1964 in Rom besuchte, aber diese Verbindung hat gehalten. Übrigens kam er damals gerade aus München, wo er bei Heiner Friedrich ausstellte und das Oktoberfest besuchte.
Das kann man sich bei diesem eleganten Dandy gar nicht vorstellen.
Er fand das auch ziemlich schrecklich und hatte nur eine einzige Erklärung für den ganzen Auflauf. Nämlich, dass die Leute gerne gemeinsam pinkeln gehen. Es konnte nicht ums Trinken gehen.
Mit Twombly oder Beuys haben Sie ein paar Dauerbrenner, die Sie unverdrossen immer wieder auflegen. Lohnt sich das?
Das sind einfach Klassiker, und jede neue Generation muss ihre Klassiker kennenlernen. Das Vervielfältigen und Verbreiten ist der Job des Verlegers. Wenn wir Beuys, die Bechers, Anselm Kiefer, Walker Evans oder August Sander immer wieder verlegen, dann, weil ihre Bilder zum Fundus des Kulturerbes gehören. Als ich übrigens das erste Becher-Buch machen wollte, sagte Bernd, „erst wenn Du ein ordentliches Sander-Buch gemacht hast“. Das war nicht nur Bescheidenheit, sondern auch eine Prüfung, ob ich’s überhaupt kann.
Würden Sie heute wieder einen Verlag gründen?
Ich habe den Verlag ja gegründet, um der Kunst näher zu kommen. Ich sehe die tollsten Dinge – und ich kann sie aufgreifen, wenn ich will. Ökonomisch gesehen ist die Sache so schwierig geworden wie mit meinem allerersten Buch 1972, als ich noch Student war. Von diesem Band mit Beuys-Zeichnungen habe ich in einem Jahr 800 Exemplare verkauft, Sie müssen aber 2000 absetzen. Doch ich habe einen wunderbaren Beruf, ich möchte mich nicht beklagen.
Sie haben sicher noch einiges vor?
Mit 75 bekommt man durchaus ein Gefühl für die Begrenztheit der eigenen Zeit. Aber ich bin auch fremdgesteuert: Wenn einer meiner Autoren anruft und sagt, er will das und das machen, kann ich in der Regel nicht ablehnen. Das Buch muss ja gemacht werden!
Und der Verlag?
Wenn ich mich dann zurückziehe – zwangsweise nehme ich mal an –, wird sich schon jemand finden. Es ist aber auch schön, wenn etwas einmal gewesen ist. Die Leute wissen doch immer erst hinterher, was sie verloren haben. Aber im Ernst: An der Nachfolgefrage wird kontinuierlich gearbeitet.
Lothar Schirmer: „Über meine Künstler“ (Schirmer/Mosel, 248 Seiten, 19,80 Euro)
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