Kritik

Würdiges Vermächtnis: "Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße" in Münchner Kinos

Der Regisseur starb kurz nach den Dreharbeiten seines Films. Nun kommt seine Wende-Komödie in die Kinos.
Margret Köhler |
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Plötzlich Medienstar: Michael Hartung (Charly Hübner) weiß nicht, was er davon halten soll.
Plötzlich Medienstar: Michael Hartung (Charly Hübner) weiß nicht, was er davon halten soll. © Frederic Batier/ X Verleih AG/dpa

Michael Hartung ist kein Typ, nach dem sich Frauen reißen. Etwas schlapp schlufft er durchs Leben, häuft Schulden an und hängt in seiner angeranzten Videothek "Tycoon" und kippt mal ein Gläschen oder zwei mit Nachbarn und Freunden.

Als ein pfiffiger Journalist (Leon Ullrich) einen großen Artikel zum Jahrestag des 30. Mauerfalls über ihn veröffentlichen will, ist er erst einmal skeptisch. Aber ein paar Scheinchen lassen seine Skrupel schmelzen wie Eis in der Sonne. Im Juli 1983 soll er als stellvertretender Stellwerksmeister eine Massenflucht vom Bahnhof Friedrichstraße in den Westen initiiert haben: Durch eine versehentlich falsch gestellte Weiche sauste der Zug mit 127 Fahrgästen in den Westen.

Die Stasi verhörte ihn als Fluchthelfer, steckte ihn zwei Tage in den Knast und dann kam der Deckel auf die Story, er durfte kein Wörtchen mehr über die Sache verlieren.

Der Held einer Lügengeschichte

Aber Micha braucht Geld und der Typ vom Nachrichtenmagazin "Fakt" eine heiße Story und die wird mit viel Fantasie gestrickt und zum Akt des heroischen Widerstands aufgeblasen mit dem Märtyrer für mehrere Monaten hinter Gittern. Allein schon die dem "Spiegel" nachempfundene Optik weist auf den Fall Relotius.

Christiane Paul und Charly Hübner im Bahnhof Friedrichstraße
Christiane Paul und Charly Hübner im Bahnhof Friedrichstraße © Frederic Batier/ X Verleih AG

Am Ende ist Micha der Held einer Lügengeschichte, die für Furore sorgt. Talks-Shows folgen. Sogar der Bundespräsident empfängt ihn und am Mauergedenktag soll er eine Rede im Bundestag halten. Obendrein hat Staatsanwältin Paula (Christiane Paul), die im besagten Zug in die "Freiheit" fuhr, ein Auge auf ihn geworfen. Ob das alles gut geht?

Der Kampf eines Losers gegen den Rest der Welt

20 Jahre nach der erfolgreichen Wendekomödie und seinem international berühmten "Good Bye, Lenin" adaptierte Wolfgang Becker Maxim Leos titelgebenden Roman über die Massenflucht, die es natürlich so nie gab, für die Leinwand.

Raffiniert und mit seinem typischen Wortwitz erzählt er vom Kampf eines Losers gegen den Rest der Welt, vom Ausgeliefertsein an die über uns rollende Digitalisierung, die Instrumentalisierung des Individuums durch Medien und Politik, seine Reduzierung zum Spielball der Emotionen.

Ganz nebenbei geht es um neue Freunde und alte Seilschaften aus der DDR, aber in großer Zartheit auch um eine Liebe zwischen total unterschiedlichen Erwachsenen, nicht einfach, aber möglich. Staunend betrachtet man, wie aus einer kleinen Lüge ein Lügengebäude erwächst, das irgendwann hart zusammenkracht.

Leon Ullrich und Charly Hübner
Leon Ullrich und Charly Hübner © Frederic Batier/ X Verleih AG

Bis dahin folgt man dem Eiertanz vom großartig spielenden Charly Hübner als bodenständigem und warmherzigem Held und Objekt falscher Erinnerungskultur mit einem lachenden und einem weinenden Auge. "Aber ist es nicht so, dass wir uns meistens das Leben so erzählen, wie wir es gerne hätten?", fragt der tragikomische Pechvogel, der auch schon mal im Bademantel vor seinem Laden steht. Und hat er da nicht Recht?

Beckers letzter Film: Tiefe Humanität

Mit diesem, seinem letzten Film, hinterlässt uns Wolfgang Becker ein Vermächtnis und wirft dabei einen überspitzten und satirischen Blick auf die Hierarchie der Geschichtsschreibung. Kurz nach Ende der Dreharbeiten 2024 starb der im Sauerland geborene Wahlberliner mit 70 Jahren. Seine künstlerischen Wegbereiter und Freunde Regisseur Achim von Borries und Produzent Stefan Arndt beendeten den Film in seinem Sinn.

Wolfgang Becker, Filmregisseur, während eines Interviews in seinem Atelier.
Wolfgang Becker, Filmregisseur, während eines Interviews in seinem Atelier. © picture alliance/dpa

Vieles aus seinem Werk findet sich hier wieder, seine Neugier auf Menschen, die Verschränkung von Wirklichkeit und Fiktion, Humor und Nachdenklichkeit, Sympathie für Underdogs und die Hoffnung auf etwas Glück, nie ideologisch verbrämt oder Ostalgie verziert, sondern von tiefer Humanität geprägt.

R: Wolfgang Becker (D 113 Min.); K: City, Atelier, Kino Solln, Leopold, Rio

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