"Schachnovelle" im Kino: Zug um Zug in die Zerrüttung

Radikal anders und doch ganz im Geist von Stefan Zweig: Philipp Stölzl verfilmt die "Schachnovelle".
Adrian Prechtel
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Kann man gegen sich selbst Schach spielen? Bartok (Oliver Masucci) im Wahnsinn seiner Isolationshaft.
Kann man gegen sich selbst Schach spielen? Bartok (Oliver Masucci) im Wahnsinn seiner Isolationshaft. © Studiocanal

Gleich zu Beginn, nach zermürbenden Pass-, Gepäck- und Visakontrollen - immer in der Angst, dass es doch noch schief gehen könnte und man wieder in den Händen der Gestapo landet - legt der Ozeandampfer doch noch ab.

Im Speisesaal sitzt Dr. Josef Bartok (Oliver Masucci) mit immer noch flatternden Nerven und nervösem Blick neben seiner Frau (Birgit Minichmayr) am Tisch: "Alles wird so wie früher. Ich versprech es Dir!", versucht sie ihn zu beruhigen. "Wie war es?", fragt Bartok fast abwesend. "Was?"- sie versteht ihn nicht. Er: "Früher" - und jetzt geht man mit dem konservativen, spielerisch arroganten Vermögensverwalter des Adels, Josef Bartok, in die Welt von gestern.

"So lange wir tanzen, kann die Welt nicht untergehen"

Die Bälle gehen weiter, während sich draußen schon der "Anschluss" Österreichs vorbereitet. "So lange wir tanzen, kann die Welt nicht untergehen", sagt Bartok seiner Frau beim Kaiserwalzer ins Ohr, als ginge einen im bereits austrofaschistischen Ständestaat das alles - als ein Problem des Pöbels - gar nichts an.

Aber dann geht doch alles unfassbar schnell. Bartok wird noch in der Nacht des 12. März 1938 ins Gestapo-Hauptquartier gebracht. Er soll kooperieren, damit der NS-Staat an die Vermögen von Bartoks Klienten kommt. Da Bartok sich weigert, kommt er in Isolationshaft.

"Schachnovelle": Als Zuschauer im Kopf Bartoks

Stefan Zweig hat 1941 die "Schachnovelle" vollendet und wenige Monate später aus Verzweiflung über den moralischen Untergang seiner "Welt von gestern" im brasilianischen Petrópolis Selbstmord begangen: "Wenn ich zusammenrechne, wie viele Formulare ich ausgefüllt habe", schreibt Zweig über seine Flucht und Exilerfahrung, "wenn ich also zusammenrechne, wie viele Erklärungen bei jeder Reise, wie viele Stunden ich gestanden in Vorzimmern von Konsulaten und Behörden, vor wie vielen Beamten ich gesessen habe, wie viele Durchsuchungen an Grenzen und Befragungen ich mitgemacht, dann empfinde ich erst, wie viel von der Menschenwürde verloren gegangen ist."

Philipp Stölzl hat diesen Gedanken aufgegriffen, aber dazu stark in die Struktur der Novelle eingegriffen. Aber genau das muss ein Filmemacher, der Literatur eben nicht nur bebildern, sondern ein eigenes, filmisches Kunstwerk schaffen will. Regisseur Gerd Oswald hatte sich - 1960 mit Curd Jürgens als Dr. B. - noch sehr nah an die Handlung der Vorlage gehalten. Stölzl hat sich jetzt zu einer radikalen Psychologisierung und - nach der Zerrüttung der Hauptperson - zu einer Psychopathologisierung entschieden. Man bekommt die Geschichte nicht wie von einem Augenzeugen geschildert, sondern ist als Zuschauer quasi im Kopf Bartoks.

Und während man anfangs noch die exklusive Behandlung von Bartok in einem arisierten Wiener Grand Hotel für ahistorisch mild hält, wird einem erst Schritt für Schritt klar: Der als Gegenspieler von Stölzl hinzugefügte, sadistische, aber pervers kultivierte Gestapo-Offizier (Albrecht Schuch) wendet hier eine besonders perfide Methode an: Isolationsfolter, in die der Zuschauer fast physisch, jedenfalls aber psychisch in Mithaft genommen wird.

Surrealer Showdown am Schachtisch

In die zunehmende geistige Zerrüttung wird man so mit hineingezwungen, sodass man selbst nicht mehr klar zwischen Realität und Wahn unterscheiden kann. So wird Stölzls Film zu einem kafkaesken Spiel - bis hin zum fast surrealen Showdown am Schachtisch des Passagierdampfers, der etwas von einem Geisterschiff hat, womit der vermeintliche Weg in die Freiheit selbst als Wahn in Zweifel gezogen ist.

"In den USA zählt nicht, wer Du bist, sondern wer du sein willst", sagt ihm seine Frau an Bord, woraufhin Bartok antwortet: "Ich weiß noch nicht mal, wer ich war." Denn die plötzliche Frage, was man für Freiheit und Menschlichkeit bereit ist zu riskieren und einzusetzen, stellt das vorherige Dasein in seiner bürgerlichen Selbstzufriedenheit in Frage.

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Der Film entwirft erst das Bildnis eines mittleren Charakters, der für uns in seiner lässig arroganten Dekadenz und Wiener Geschmeidigkeit anfangs nicht einmal ein besonderer Sympathieträger ist, aber im brutalen Ausgeliefertsein gewinnt dieser Mann immer stärker an Haltung und Unbeirrbarkeit.

Wenn am Ende des Films ein mahnender Satz von Stefan Zweig steht, so ist das kein Schlusssatz im Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs und der NS-Herrschaft, sondern ein geistiger Kompass, der bis in unsere Gegenwart reicht: "Es ist an uns heute, den Glauben an die Unbesiegbarkeit des Geistes unerschütterlich aufrechtzuerhalten."

Auch dafür ist Philipp Stölzls Film ein künstlerisch bildgewaltiges und geistig fantastisches Plädoyer.

Kinos: ABC, Arena, City-Atelier, Solln, Neues Rex, Rio Filmpalast, R: Philipp Stölzl (D, 112 Min.)

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