"Petite Maman" im Kino: Meine Mutter als Freundin
Am Anfang stand das Bild von zwei Mädchen, die ein Baumhaus bauen: Ausgangspunkt einer poetischen Zeitreise ohne Zeitmaschine. Nach dem ambitionierten, erotischen, barocken "Porträt einer jungen Frau in Flammen" vor drei Jahren taucht Céline Sciamma jetzt ein in die Welt der Kinder und erzählt eine komplizierte und gleichzeitig einfache Geschichte: Die achtjährige Nelly ist mit ihrer Mutter im Altenheim, wo gerade ihre Großmutter gestorben ist. Nur deren Gehstock bleibt als Erinnerung. In den Gängen und Zimmern sagt sie jedem der Insassen "Auf Wiedersehen".
Zurück im Haus der Großmutter findet die Achtjährige beim Aufräumen Spielsachen und Bücher ihrer Mutter Marion, die es aber aus Traurigkeit dort nicht mehr aushält und einfach wegfährt.
Seit Ihrem ersten Film "Wasserlilien - Der Liebe auf der Spur" geht es bei Sciamma um eine für die Beteiligten begrenzte Zeit, die sie für sich ganz besonders nutzen. So auch hier. Es ist Nellys Perspektive, die bestimmend ist - ob sie das verwunschene Haus erforscht, den nahen Wald oder auf das Baumhaus stößt.
"Petite Maman - Als wir Kinder waren": Tage wie im Märchen
Was steckt dahinter, wenn sie in einem magischen Moment in einem gleichaltrigen Mädchen, das ihr aufs Haar gleicht, ihrer eigenen Mutter begegnet, mit der sie sich anfreundet und Tage wie im Märchen verbringt? Nelly und Marion klettern auf Bäume, paddeln mit einem Boot herum, stromern alleine durch den Wald, ein Gegensatz zu den Klischeevorstellungen von zerbrechlichen kleinen Mädchen.
Die Kraft des Films liegt in seiner Leichtigkeit, mit der er fast unmerklich in eine Fantasiewelt entführt. Verrätselt und zärtlich erzählt die Französin von Kindheitsträumen und Kindheitstraumata, von Abschied und Entdeckung der Identität. Das kindliche und intime Spiel mit Zeit und Wahrnehmung wird durch Gedankenspiele, Erinnerungen und kleinen Zeichen zum Ausflug in die Vergangenheit, die sich mit Gegenwart und Zukunft vermischt, wenn die Mädchen generationenübergreifend ihr ganz persönliches Abenteuer erleben, weit weg von der Realität der Erwachsenen.
Die Besetzung ist ein Glücksfall
Ein Glücksfall ist die Besetzung mit den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz, die beide noch nie vor der Kamera standen, aber intuitiv und scheinbar mühelos jede Emotion rüberbringen. Für rationale Gemüter mag es schwierig sein, dem Mysterium der Kinder zu folgen und wer auch nur versuchen sollte, jedes Detail zu verstehen, ist verloren. Es gibt eben Filme, in die muss man sich hineinfallen und von ihnen tragen lassen, ohne das Ziel zu kennen: wie eben bei "Petite Maman", einem großen Wurf mit leiser Wucht, herzergreifend und künstlerisch fein. Wie heißt es etwas zu Tode zitiert, aber oft wahr bei Saint-Exupérys "Der kleine Prinz"? "Man sieht nur mit dem Herzen gut."
Kino: ABC, Arena, City, Theatiner (OV) R: Céline Sciamma (F, 73 Min.)
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