Filmfestival Venedig: Der Lido ist weiblich

Das Filmfestival in Venedig war heuer ein italienisch-europäisch dominiertes Schaulaufen mit internationalen Einsprengseln.
Adrian Prechtel
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Einen starken Auftritt hat Frances McDormand im abschließenden Wettbewerbsbeitrag "Nomadland" von Regisseurin Chloé ZhaoFrances.
Einen starken Auftritt hat Frances McDormand im abschließenden Wettbewerbsbeitrag "Nomadland" von Regisseurin Chloé ZhaoFrances. © 20th Century Studios/Biennale di Venezia/dpa

Venedig – Natürlich war dieses Jahr vieles ganz anders am Lido. Aber wenn jetzt diesen Samstag die 77. Filmfestspiele von Venedig mit der Löwengala enden, hat das Festival der Welt gezeigt: Ja, man kann auch in Coronazeiten ein internationales Festival würdig über die Bühne bringen - mit Temperaturmessen am Eingang, Maskenzwang auf dem ganzen Gelände, Halbierung der Plätze, großen Räumen, allgegenwärtigen Desinfektionsmittelflaschen. Und das hat bei den angeblich laxen Italienern bestens funktioniert, auch durch die aufgestockte Präsenz von Sicherheitsdienstleuten.

Dass trotzdem Eleganz und sogar Feierlichkeit aufkam, ist wiederum der Festivalleitung zu verdanken, die am Roten Teppich und Premierengalas festhielt, so dass Venedig dieses Jahr ein Maskenball war.

Corona machte das Filmfestival europäisch dominiert

Bleibt die große Frage: Was aber hat Corona dem ältesten Filmfest der Welt inhaltlich angetan? Denn seit Jahren ist der Lido die Startrampe für die Oscar-Saison, hier hatten in den vergangenen Jahren "Joker", "Shape of Water", "Gravity" oder "La La Land" Weltpremiere.

Diesmal gab es nur zwei US-Beiträge im Wettbewerb und keine Blockbuster außerhalb. Nicht nur, dass Amerika unter der Coronawelle die Schotten dichtgemacht hat, also keine Schauspieler und Filmcrews anreisen konnten oder wollten - auch alle Drehs und Produktionsarbeiten wurden gestoppt. Und wenn sie doch fertig waren, hatten die Vertriebe und Verleiher keine Lust, die Premiere am Lido verpuffen zu lassen, weil sich alle großen Filmstarts nach monatelangen Kinoschließungen nach hinten verschoben haben. Es fehlte Sophia Coppola, die für ihren "On the Rocks" wieder Bill Murray mitgebracht hätte, oder Steven Spielberg mit seiner neuen "West Side Story" und David Finchers "Mank".

So war das Festival am Lido ein italienisch und europäisch dominiertes Filmfest mit internationalen Einsprengseln. In Erinnerung wird es aber, nicht nur wegen der Coronareduktion, bleiben, sondern weil es in einer Hinsicht dann doch Avantgarde war - als bisher weiblichstes Großfestival. Und dass nicht nur, weil acht von den 18 Wettbewerbsfilmen Regisseurinnen hatten, sondern auch, weil Filme von Regisseuren, starke Frauen im Zentrum hatten.

Weiterhin Gendertrennung bei den Schauspielern

Dazu passt, dass die Jurypräsidentin zwar ihrer Verpflichtung zur Verschwiegenheit nachkam, sich aber doch zu einer Äußerung hinreißen ließ, die genau das spiegelt: "Lasst uns hoffen, dass der Golde Löwe eine Frau wird", sagte Cate Blanchett der Tageszeitung "La Repubblica" und ergänzte: "Ich habe ein ganzes Bündel von Frauen im Auge für den Schauspielerinnenpreis, bei den Männern sticht mir keiner ins Auge."

Was wiederum zu der Genderfrage führt, warum es überhaupt die Unterscheidung "Bester Schauspieler, Beste Schauspielerin" gibt. Die Berlinale hat sie zur "Besten Darstellung" zusammengefasst, was der Festivaldirektor am Lido, Alberto Barbera mit den Worten abgelehnt hat: "Ich verstehe nicht ganz, warum man aus zwei wichtigen Anerkennungen nur eine machen sollte." Und die folgende Diskussion hier am Lido gab ihm überwiegend recht: Wäre es nur ein Preis, wäre eine Jury unter Druck, ihn in diesen aufgeladenen Gender-Zeiten einer Frau zu geben, was ungerecht wäre. Und die prämierte Frau hätte dann das Gefühl, ihn nur bekommen zu haben, weil sie eine Frau ist. Womit wiederum niemandem gedient wäre.

In dieser Gemengelage bietet sich als Löwenfilm ein harter, enorm starker Beitrag an: "Quo Vadis, Aida" der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanic, europäisch produziert und von einer starken Frau im Zentrum getragen: Jasna Durièic als Übersetzerin für die UN-Truppen zwischen den Fronten im Bosnienkrieg, die miterlebt, wie Serben das Massaker an 8000 Bosniern begehen, die in die UN-Schutzzone geflüchtet waren. Extrem gut bei Presse und Publikum ist noch der italienisch-belgische Spielfilm über die Tochter von Karl Marx angekommen. "Miss Marx" hat sogar eine italienische Regisseurin. Aber vielleicht ist er in diesen bewegten Zeiten doch zu brav.

Ganz besonders, weil poetisch und hart zugleich, war der gefeierte Dokumentarfilm über das Leben im verwüsteten Nahen Osten. Nur ist "Notturno" von einem Regisseur, der schon 2013 am Lido den Goldenen Löwen gewonnen hat mit seinem Dokumentarfilm über den Autobahnring um Rom "GRA" und vor drei Jahren den Silbernen Bären in Berlin für "Fuocoammare", den Lampedusafilm über ankommende oder gerettete Flüchtlinge.

Viele starke Filme bis zum Ende

Vielleicht ist das die Stärke der Filmbiennale 2020, dass es zwar keinen klaren Favoriten gibt, aber viele starke Filme, auch noch zum Ende hin. Wie das eisenharte mexikanische Gesellschaftsdrama "New Order" oder - zum Abschluss des Wettbewerbs - "Nomadland" der chinesisch-amerikanischen Regisseurin Chloé Zhao.

Es ist ein Lebensdrama mit stark gesellschaftlichem Einschlag: Die immer überragende Frances McDormand spielt eine Frau, die nach der Schließung der Fabrik, die eine ganze Provinzstadt in Nevada am Laufen hielt, obdachlos in einem Kleinbus nach neuem Halt im Leben sucht.

So war das Festival in dieser Sonderausgabe 2020 auch stark politisch, aber immer über sehr menschliche Geschichten erzählt. Und Corona? Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis sich diese Katastrophe im Film spiegeln wird. Vielleicht auch in Filmen hier am Lido, der die Feuerprobe in Seuchenzeiten wunderbar gemeistert hat.

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