Gastbeitrag von Andreas Püttmann: Ohne Streit keine Wahrheit

Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts" - wer wollte diesem Wort, das Willy Brandt 1981 in die Nachrüstungsdebatte hinein sprach, nicht spontan zustimmen? Und doch wäre es kurzschlüssig, Friedfertigkeit an die Spitze aller Tugenden zu stellen. Die Sache ist komplizierter.
Es bedurfte einer großen kriegerischen Anstrengung, um Hitlerdeutschland niederzuringen und wieder Freiheit und humane Mindeststandards zumindest im westlichen Teil Europas zu etablieren. Dass ohne Frieden "nichts" von Wert bestehen könne, ist falsch. Die Verschwörer vom 20. Juli 1944 lebten Werte und Tugenden mitten im tiefsten Unfrieden unter Einsatz von Täuschung und Gewalt inklusive Attentat vor.
"Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein", heißt es in der Bibel
Schon die alten Römer wussten, dass man sich zur Erlangung des Friedens manchmal auf Krieg vorbereiten muss: "Si vis pacem, para bellum". Die Bibel fordert zwar in Psalm 34 dazu auf, den Frieden zu "suchen", ihm "nachzujagen", nennt aber als seinen Wurzelgrund nicht die bloße Friedensliebe, sondern einen fundamentaleren Wert, der - neben Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung - als Kardinaltugend gilt: "Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein", steht bei Jesaja.
Die Propheten waren streitbare Gestalten, die meist in schroffem Kontrast zu den Verwaltern des politischen und religiösen Friedens ihrer Zeit standen. Mit ihrer scharfen Zunge lebten sie gefährlich. Auch Jesus trat nicht gerade betulich auf. Zwar pries er die Friedensstifter selig und lehrte, das Böse durch das Gute zu überwinden.

Jesus: "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen"
Doch scheute er sich nicht, Heuchler "Heuchler" zu nennen, böse Zeitgenossen als "Schlangenbrut" und "getünchte Gräber" anzuprangern, geldgierige Händler aus dem Tempel zu peitschen und denen, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, das Himmelreich zu verheißen.
Also jenen, die nicht "um des lieben Friedens willen" nachgegeben und geschwiegen haben, sondern für höhere Werte und Normen eintraten - komme es gelegen oder ungelegen. Über sich selbst sprach Jesus sogar das verstörende Wort: "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert."
Püttmann: Menschen gehen oft lieber Abkürzungen"
Auch Christsein ist also offenkundig nicht einfach eine "Piep, piep, piep, wir ham uns alle lieb"-Veranstaltung. Es verlangt zum Schutz höchster Güter die Bereitschaft zur Unterscheidung der Geister und damit zum Streit, bis hin zu Spaltung und Trennung. Manchmal stellt sich später trotzdem Frieden ein, gerade weil man zunächst eine Friedensstörung in Kauf genommen hat. Ethik hat eben auch mit Paradoxien zu tun, mit der Kalkulation von Wirkungen auf längere Sicht. Mit scheinbar dem Ziel widersprechenden Umwegen, die aber zum Ziel führen.
Menschen gehen oft lieber Abkürzungen oder setzen das Ziel mit dem Weg gleich. Frieden als heilsamer Zustand der Stille oder Ruhe, ohne Störung, Beunruhigung oder gar Krieg, verschafft uns kurzfristig ein Wohlgefühl und die Bequemlichkeit, uns nicht "verkämpfen" zu müssen. Doch ein fauler Friede um den Preis von Unrecht und Unehrlichkeit fällt einem meist irgendwann auf die Füße.
Adenauer: "Ich bin bekannt dafür, dass ich ein Störenfried bin"
Sein Inbegriff in der Politik ist das "Peace in our time!" ("Frieden für unsere Zeit") des britischen Premiers Neville Chamberlain am 30. September 1938 nach der Münchener Konferenz mit Hitler und Mussolini. Die nicht eingeladene Tschechoslowakei musste das Sudetenland an Nazideutschland abtreten. So meinte man sich europäischen Frieden erkauft zu haben.
Englands und Frankreichs Beschwichtigungspolitik gegenüber dem aggressiven Naziregime sollte sich fürchterlich rächen. Winston Churchill sah sein Land damals in der "Wahl zwischen Krieg und Schande". Man wähle die Schande und werde den Krieg "etwas später" bekommen. Binnen Jahresfrist war es soweit.
Der Auftrag, dem Bösen im privaten, beruflichen und staatsbürgerlichen Leben zu widerstehen, erfordert zwar zuerst kritische Selbstdistanz, aber ebenso die Bereitschaft zum Konflikt mit anderen bis hin zur Ruhestörung. "Ich bin bekannt dafür, dass ich ein Störenfried bin", sagte Konrad Adenauer bei seiner letzten Rede am 28. Februar 1967 und pochte darauf: "Wenn ich ein Störenfried bin, dann geschieht es auch aus gutem Grund. Wenn jemand Schlafende aufweckt, damit sie aufpassen, dann ist der Betreffende kein Störenfried. Ich möchte rufen, seid wach!"
Püttmann: "Als Schlichtung bleibt nur der Kompromiss übrig"
Wo zwei sich streiten, gehen außen stehende Dritte heute gern davon aus, dass beide "ein Stück weit" "in Schuld" sind und sich irgendwo in der Mitte treffen müssten. Das Zerrüttungsprinzip löste die mühevolle Suche nach Verantwortlichkeiten, Recht und Unrecht ab. Wo aber alles gleich gültig ist, droht bald alles gleichgültig zu werden. Als Streitgrund bleibt nur die Austragung von Interessengegensätzen übrig, als Schlichtung der Kompromiss.
Pure Wahrheitsliebe oder Gerechtigkeitssinn als Motive, eine Kontroverse zu beginnen, überfordern manche Vorstellungskraft und lösen Verdächtigung aus. Jene, die sich durch eine Unterscheidung der Geister gestört, ertappt oder beschämt fühlen, diffamieren den Streitbaren gern als anmaßend, persönlich motiviert oder querulatorisch. Seine Unerschrockenheit trägt ihm zwar auch Respekt ein, beschert ihm aber noch sicherer Unverständnis und Feindschaft.
"Ein Harmoniediktat komplimentiert die Zwietracht zum Hauptportal hinaus"
Die Unterscheidung von Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum nach bestem Wissen und Gewissen gehört zu den unaufgebbaren Dimensionen christlicher Kultur und abendländischer Philosophie. Wer sie gegen bloßes Interessendenken, "anything goes" oder den neuen Autoritarismus bewahren will, kann dies nicht, ohne ein klares Ja zur Streitbarkeit zu sagen - und sei die Sehnsucht nach Frieden noch so groß.
Dass die Unterdrückung von Streit Frieden schaffe, ist eine Illusion. Wo Streit mit offenem Visier auf öffentlicher Bühne verpönt wurde, werden Konflikte trotzdem ausgetragen, dann eben lautlos in der Kulisse, oft mit unmoralischeren Mitteln: Manipulation, Korruption, üble Nachrede, Intrige, Einschüchterung. Ein Harmoniediktat komplimentiert die Zwietracht zum Hauptportal hinaus, und durch die Hintertür schleicht sie sich gleich wieder ein. Vor falschem Schein warnt schon die Bibel: "Sie rufen ,Friede, Friede!', und doch ist nicht Friede" (Jer 8,11).
"Das Gegenteil von Liebe heißt Gleichgültigkeit"
Allerdings soll man Streit weder suchen noch zum Siedepunkt des Hasses hochkochen lassen. Christliche Streitbarkeit bleibt stets offen für das versöhnliche Gespräch. Sie vermeidet es mit Unterstellungen statt mit Belegen zu arbeiten. Sie versucht den anderen nicht durch sachfremde Verweise auf persönliche Merkmale wie Aussehen, Alter, Geschlecht oder biographische Brüche zu diskreditieren. Sie straft für Gesinnungsdissens nicht mit Sympathieentzug ab. Sie verteidigt die Freiheit des Andersdenkenden. Sie bleibt wachsam gegenüber den Grenzen der eigenen Erkenntnis und der Neigung zur Selbstrechtfertigung. Sie behält immer die im Galaterbrief aufgezählten Früchte des Heiligen Geistes im Blick: "Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung".
So macht sie es dem Kontrahenten leichter, im Antrieb des Streitbaren eine - wenn auch manchmal verborgene - paradoxe Gestalt der Liebe zu erkennen. Das Gegenteil von Liebe heißt nämlich Gleichgültigkeit. Dass die schönen Tugenden der Mäßigung und Sanftmütigkeit in Religionen und Gesellschaft heute vielfach schmerzlich entbehrt werden und eine verbale Verrohung um sich greift, darf nicht dazu verleiten, den Wert der Streitbarkeit gering zu schätzen und der Solidarität mit der eigenen Gruppe unterzuordnen.
"Streit ist das Lebenselexier der Wahrheit"
Das Gegenteil ist nötig: Durch Kommunikations-"Blasen" im Internet forcierte Versektungs- und Radikalisierungstendenzen machen Kritik "aus den eigenen Reihen" noch wichtiger. Streit ist das Lebenselexier der Wahrheit. Wo er autoritär im Namen der Einheit oder des (Burg-)Friedens unterbunden wird, leidet nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch die Klugheit. Dann gerät die Wahrheitsfrage in der Praxis zur bloßen Machtfrage. Borniertheit, Heuchelei und Selbstverleugnung bestimmen dann die Szene. Eine Wahrheit, die frei macht, sieht anders aus. Sie braucht "Störenfriede" nicht zu fürchten.
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