"The Holy Bitch Project": Raus aus der Matrix!

Christiane Mudra beschäftigt sich in "The Holy Bitch Project" mit der Gewalt gegen Frauen.
Michael Stadler |
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Leicht versehrt - oder bewusst nicht stromlinienförmig im Kampf gegen den männlichen Blick? Meriam Abbas in "The Holy Bitch Project"
Leicht versehrt - oder bewusst nicht stromlinienförmig im Kampf gegen den männlichen Blick? Meriam Abbas in "The Holy Bitch Project" © Verena Kathrein

München - Allein die Programmhefte der, wohlgemerkt freien, Produktionen von Christiane Mudra sind den Theaterbesuch schon wert.

In hochwertiger Aufmachung wird da einem schon sehr viel interessantes Material präsentiert: Bilder, Dokumente, Zitate, welche die unermüdliche Münchner Theatermacherin in einem Jahr - so lange, wenn nicht viel länger recherchiert Mudra für ein Projekt - gesammelt hat.

Erschreckende Fakten über Gewalt an Frauen

So bietet das Heft zu ihrem provokativ als "The Holy Bitch Project" betitelten neuen Investigativ-Stück ein reichhaltiges Sammelsurium zum Thema der häuslichen, sexualisierten und digitalen Gewalt gegen Frauen.

Einige erschreckende Fakten sind da aufgeführt, etwa, dass jeden Tag ein Mann in Deutschland versucht, seine (Ex-)Partnerin zu töten. Und dass jeden dritten Tag ein solcher Versuch auch "gelingt."

Im Pathos Theater wird dazu ergänzt, dass seit Anbruch der Pandemie die häusliche Gewaltrate gegenüber Frauen noch mal um sechs Prozent gestiegen sei.

Ein hochaktuelles Projekt

Das Projekt von Mudra ist also aktueller denn je, und sie macht es sich - ähnlich ambitioniert wie in ihrer Trilogie über die rechtsradikalen Verbindungslinien, die sich vom Nationalsozialismus bis ins Heute ziehen - zur Aufgabe, möglichst umfassend die Hintergründe für den gewaltvoll-herabwürdigenden Umgang mit Frauen zu beleuchten.

Dabei lässt Mudra im Pathos vor allem in einer Dunkelheit spielen, in die sich einzelne Lichtlinien wie Erkenntnisstrahlen fräsen oder Video-Projektionen auf den verschiebbaren Plastikvorhängen etwas Helligkeit spenden und den Redefluss zusätzlich bebildern.

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Und geredet wird, wie immer bei Mudra, sehr viel. Regelrechte Wortkaskaden brechen auf die zwanzig Leute ein, die pro Vorstellung erlaubt sind.

"Hast du deine Tage?!"

Sei es, dass das sechsköpfige Performanceteam Sätze sagt, die eine Frau im Alltag von ihren Eltern, ihren Freunden, ihrem Partner zu hören bekommt - "Zieh dich mal anständig an!", "Hast du deine Tage?!", "Bei unserer Hochzeit sah sie besser aus… (Gelächter)" - oder sich die Aufzählung von Attentaten, bei denen die Täter auf weibliche Opfer abzielten, sich zu einem finalen Crescendo steigert.

Erschreckend, wie bekannt einem die Vorwürfe, Anfeindungen, Flüche ("Du blöde Kuh!) sind.

Das weibliche Selbstbewusstsein klein halten

Per Sprache wird das weibliche Selbstbewusstsein von Kindesbeinen an klein gehalten, wenn der Tochter gesagt wird, dass sie der Familie ja keine Schande machen soll, oder wenn mit dem Begriff der "Scham" wiederholt die aufblühende Sexualität in Schach gehalten wird.

Wie das weibliche Selbstwertgefühl auf das Finden eines Mannes geeicht wird, zu dem Frau hochschauen kann, machen Mudra und ihr Team vehement deutlich.

Auch aus Hollywood-Filmen werden bekannte Sprüche zitiert, die alte Klischeevorstellungen ("Mein Baby gehört zu mir" aus "Dirty Dancing") romantisch verpacken.

Das Publikum wird zu einer Gemeinschaft der Zuhörenden

Insgesamt wird das sonst so voyeuristisch schauende Publikum bei Mudra zu einer Gemeinschaft der Zuhörenden: Per Kopfhörer wohnt man den von ihr in Interviews gesammelten, von den Performern live vorgetragenen Fallbeispielen bei, hört die normalerweise an Frauen gerichteten Verbalinjurien, ist ihnen unmittelbar ausgesetzt.

Mudra hat mal wieder mit perfektionistischem Drive recherchiert; möglichst viel soll dann immer auch dem Publikum dargeboten werden.

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Dadurch haben ihre Performances einen Hang zum Hörspiel, doch sie öffnet auch Assoziationsräume ins Theatralische oder Filmische.

Waren der Western oder der Stummfilm in früheren Arbeiten wirksame Folien für die Informationsflut, so findet Mudra dieses Mal in dem Blockbuster "Matrix" einen spielerischen Rahmen.

Charity Collin als Morpheus

So tritt Charity Collin zu Beginn "Matrix"-haft als Morpheus auf, der dem Publikum jeweils eine rote oder blaue Pille anbietet, wobei die blaue ein Weiterträumen in der Illusion ermöglicht, während die rote auf eine Reise in die Tiefen einer versteckten Wahrheit einlädt.

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Die Metapher der "Red Pill" beanspruchen auch die "Involuntary Celibates", kurz "Incels" genannt, die sich in Sachen sexueller Befriedigung benachteiligt fühlen, ihren Frauenhass in diversen Foren kundtun und aus deren Reihen einige Attentäter stammen, wobei es wiederum eine enge Verbindung zum rechten politischen Rand in den USA gibt.

Das Patriarchat als Matrix

Mudra greift sich die Metapher der "roten Pille" und vereinnahmt sie wiederum für ein feministisches Narrativ, in dem die Matrix, die es zu durchbrechen gilt, das Patriarchat ist.

Auch den von den Rechten als Maskottchen missbrauchten Comic-Frosch "Pepe" nimmt Mudra sich vor, verknüpft ihn mit dem Märchen vom "Froschkönig", der in der Urfassung noch an die Wand geworfen wurde, in späteren Versionen aber geküsst werden sollte, damit ein schöner Prinz herauskommt.

"Dein Freund bleibt ein Frosch, auch wenn du ihn küsst", heißt es einmal. Und bei Mudra wird ganz entschlossen ein Stofftier-Frosch an die Wand geknallt.

Fast zwei Stunden rasantes Tempo

Im rasanten Tempo öffnen und schließen sich in fast zwei Stunden solche Motivkreise; alles Mögliche, von der üblen Wirkmacht der Pornographie über Partner-Überwachung-Apps bis hin zur langjährigen Weigerung der Gesetzgeber, Vergewaltigungen in der Ehe strafrechtlich zu verfolgen, wird behandelt.

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Leider schafft es Mudra dabei nicht, das Publikum ähnlich gut zu orientieren wie ihr das bei ihren Stadtraumprojekten gelang.

Man steht im Pathos oft etwas unschlüssig mit seinen Kopfhörern herum, während die Performer irgendwo ihren Text sprechen, Vorhänge aufziehen und dabei doch nur selten klare, neue Spielräume schaffen.

Ein schockierender Weckruf

Als schockierender Weckruf für Menschen, die den alltäglichen Sexismus verinnerlicht haben, und Appell, nicht zu schweigen, sondern sich lauthals zu wehren, funktioniert Mudras Performance jedoch sehr gut - auch dank eines Ensembles, das sich die oft ziemlich trockenen Informationen ins Gehirn gepackt hat und ins Spiel bringt, hochengagiert und hochemotional im Einklang mit ihrer Regisseurin.


Pathos, Dachauer Str. 110d, wieder am 23., 24., 25., 26., 27., und 29. Juni, 19 Uhr; Altersempfehlung: ab 18, Tickets: 19€/12€ ermäßigt; zusätzlich werden Workshops angeboten, zum Beispiel heute, 18 bis 21 Uhr, "Wo sind meine Grenzen? Empowerment für Frauen" mit Susanne Funk; www.pathosmuenchen.de

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