"Siberia": Russlands eisige Weiten

Die Bregenzer Festspiele zeigen Umberto Giordanos selten gespielte Oper "Siberia" im Festspielhaus mit einer Rahmenhandlung.
Wolf-Dieter Peter |
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Russische Tristesse mit einem Kinderspielplatz zwischen Plattenbauten: Umberto Giordanos "Sibiria" im Bregenzer Festspielhaus.
Karl Forster Russische Tristesse mit einem Kinderspielplatz zwischen Plattenbauten: Umberto Giordanos "Sibiria" im Bregenzer Festspielhaus.

Das Werk hat es bislang schwer auf der Bühne. Giordanos Komposition findet zwar über flüssig verarbeitete russische Folklore und orthodoxe Chor-Klänge zu Partien dramatischer Italianitá und zwei schwelgerischen Duetten der Liebenden. Aber das Libretto von Luigi Illica besitzt Schwächen.

Die bewährte "Bregenzer Dramaturgie", neben Populärem auf der Seebühne im Festspielhaus bislang verkümmerte Opernpflänzchen zum Blühen zu bringen, führte diesmal zu einer Neufassung der Oper des italienischen Komponisten, von dem nur "Andrea Chénier" (1896) und "Fedora" (1898) an den Rändern des Repertoires überlebten.

 

Liebeswirrwarr um junge Prostituierte

In Lexikonartikeln finden sich wohlmeinende Interpretationen der 1903 an der Mailänder Scala uraufgeführten Oper des Puccini-Zeitgenossen, die mutmaßlich von Tolstois Roman "Auferstehung" angeregt wurde: Die als Fünfzehnjährige verführte und vom Zuhälter Gleby zur Edelprostituierten aufgebaute Stephana wird von einem russischen Fürsten ausgehalten, liebt aber den jungen Offizier Vassili. Der tötet den Fürsten, geht in die lebenslange Verbannung nach Sibirien. Stephana folgt ihm. Der erneuten Erpressung durch Gleby will sich das Paar durch Flucht entziehen. Stephana wirft sich in die Kugeln der Verfolger und stirbt mit der Erde Sibiriens versöhnt.

Akt-Überschriften dieser Oper wie "Hetäre"-"Liebende"-"Heldin" lassen sich auf dem Papier zu einem "Läuterungsdrama" mit Maria-Magdalena-Zügen deuten. Die Bregenzer Festspiele haben den vielfach in Deutschland arbeitenden russischen Regisseur Vasily Barkatov zusammen mit den Filmemachern Pavel Kapinos und Sergey Ivanov eine Rahmenhandlung an russischen Schauplätzen aufnehmen lassen, die Christian Borchers zu stücktragenden Video-Sequenzen formte.

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Vor aller Musik bricht im Film eine alte Dame auf, um die traurige Familiengeschichte zu einem guten Ende zu führen: Stephana hat nämlich zwei Kinder Vassilis zur Welt gebracht; die jetzt alte Tochter bringt die Urne des Bruders zurück an den Ort des einstigen Lagers, wo Stephana und Vassili ihre letzte Ruhe gefunden haben - heute ein Kinderspielplatz.

Die sehr gut gefilmten Stummfilm-Aufnahmen in Schwarz-Weiß bekommen in diesen Kriegswochen fast beklemmende Dokumentar-Qualität. Sie verbinden und runden den etwas abgehackten Stationen-Charakter der musikalischen Akte - auch durch das unaufgesetzt expressive Spiel von Clarry Bartha, ihre Fixierung auf die Urne, ihr hilfloses Insistieren bei der Suche in kafkaesken Lager-Archiven, ihre Visionen der Toten in der eisigen Weite Sibiriens.

Auch wenn die auf einer bühnenbreiten Cinemascope-Leinwand projizierten Filmsequenzen am Ende nicht perfekt anschließen: Das Finale, wenn sich die alte Tochter im jetzt auf der Bühne farbig belebten Kinderspielplatz in die Arme der noch jungen, aber toten Mutter kuschelt, rührt an.

Ambur Braid überstrahlt alle

Das tun Christian Schmidts Bühnenbilder mehrfach. Mit raffiniert präziser Projektionstechnik verwandelt er kahle Wandpartien in angrenzende unterschiedliche Räume. Die in halber Bühnentiefe gesetzte Rückwand fährt auf zu sibirischer Weite, fährt zu Archiv-Klaustrophobie, fährt auf zur Behördenhalle mit Kachelwand im Sozialistischen-Realismus-Arbeiter-Pathos - alles stücktragend bis zum Finale.

Dazu lieferte Dirigent Valentin Uryupin nicht nur Film-Sound. Über die mit Mandoline und Zither original besetzte Bühnenmusik baute er mit den Wiener Symphonikern die dramatischen Attacken des Zuhälters Gleby (Scott Hendricks mit Scarpia-Bariton) klug auf und ließ Vassilis Liebe blühen, schwanken und endgültig erglühen (Alexander Mikhailov mit guter Bühnenerscheinung und jugendlich leuchtendem Tenor).

Das gute übrige Ensemble überstrahlte die Kanadierin Ambur Braid: Nach ihren Frankfurter Triumphen fügte sie nun mit der Stephana ihrem Repertoire eine weitere Heldin des "lirico spinto"-Fachs hinzu. Tändelei, Verführung, Hingabe kann sie mit ihrem üppigen Sopran, bis hin zur "gran espansione", dem glutvollen Ausbruch bis an die Grenze - eben eine der großen Liebenden in der Oper, auch wenn im Premierenfuror ihr Fortissimo mehrfach alles dominierte. Trotz des bitteren Endes einhelliger Jubel für eine dieser wohl weiter im Nebenbeet blühenden Opern-Orchideen.


Wieder am 24. Juli, 11 Uhr und am Montag, 1. August, 19.30 Uhr im Festspielhaus

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