Kritik

Schubladen leeren: Wiebke Puls in "Bevor ich es vergesse"

Die Schauspielerin in einem Monolog nach dem Roman der französischen Autorin Anne Pauly.
Michael Stadler |
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Die Schauspielerin Wiebke Puls mit dem Schrank als Spielpartner.
Die Schauspielerin Wiebke Puls mit dem Schrank als Spielpartner. © Armin Smailovic

Es dauert, bis man ins Schauspielhaus eingelassen wird. Kurz vor Vorstellungsbeginn drängelt die Masse hinein, ist laut, unruhig, sucht sich ihre Plätze, derweil Wiebke Puls bereits auf der Bühne sitzt, still, ihre Augen die Menge musternd. Für einen Moment überlegt man sich, wie das für die Schauspielerin gerade sein muss, was da in ihrem Kopf vorgeht. Eine Strecke von zwei Stunden liegt vor Wiebke Puls, und wovon sie erzählen, was sie im Spiel verhandeln wird, steht in einem recht starken Kontrast zu der wimmelnden Vitalität im Parkett.

Mit "Bevor ich es vergesse“ bringt Puls den gleichnamigen, für einige französische Literaturpreise nominierten, mit dem Prix Inter als "Bestes Buch des Jahres“ ausgezeichneten Debütroman von Anne Pauly auf die Bühne. Es ist ein, wie man es von anderen französischen Autorinnen und Autoren kennt, autofiktionales Werk, in dem persönliche Erfahrungen sich mit sozialkritischen, philosophischen Gedanken verbinden, wobei das Autobiographische nahtlos in die Fiktion gleitet.

Im Falle Paulys geht es um den Tod ihres Vaters, was eine Abfolge von notwendigen Erledigungen nach sich zieht, die in ihrer bürokratischen Nüchternheit der tiefen Trauer nach dem Verlust des, trotz all seiner Schwächen und Fehltritte geliebten, Menschen diametral gegenübersteht. So muss unter anderem ein Sarg ausgesucht, eine Totenanzeige geschaltet, das Begräbnis und die Totenfeier inklusive "Leichenschmaus“ organisiert werden. Zudem löst Pauly den Hausstand des Toten auf, was im Roman zu einem zentralen Akt des Sich-Erinnerns und der Trauerarbeit wird.

Emotionale Überforderung

Wie die Tochter die Habseligkeiten ihres Vaters sichtet, ordnet, sich dabei von den Gegenständen aus Gedanken über den Charakter, das Leben des Verstorbenen macht, nimmt großen Raum in dem Buch ein. Dementsprechend kramt Wiebke Puls aus Edeka-Tüten allerlei Hinterlassenes hervor, öffnet die Schubladen eines hölzernen Vitrinen-Schranks, der groß und zentral auf der Bühne steht.

Puls spielt vor dem Eisernen Vorhang, der Schrank ist ihr einziger direkter Bezugspunkt, eine Art Spielpartner, dessen Schubladen sich magisch immer wieder mit neuen Dingen füllen (Requisite: Stefan Leeb, Julia Molloy) und der sich sogar seitwärts bewegen kann.

Wiebke Puls.
Wiebke Puls. © Armin Smailovic

Wer jemals ein elterliches Haus, eine elterliche Wohnung ausmisten musste, wäre über so einen einzelnen, kompakten, geordneten Zauberschrank sicherlich erleichtert gewesen. "Hopp, hopp“ soll die Ausräumung gehen, bekommt Anne Pauly gesagt: "Doch ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte, und noch weniger, wo anfangen“, schreibt sie im Roman. Die emotionale Überforderung, die mit der Entrümpelung einhergeht, gerade angesichts all der Entscheidungen, was bewahrt werden kann, soll, muss und was nicht, macht das Buch über Seiten hinweg spürbar.

In der Theateradaption vermittelt sich dieses Gefühl nicht, wenngleich der Schrank sich als effektives Requisit erweist, mit dem sich mehrere Situationen aus dem Roman zur Darstellung bringen lassen. Einmal blickt Wiebke Puls von oben auf die unterste Schublade, kaltes Licht strahlt heraus - aus der Schublade wird das Kühlfach, in dem die Leiche des Vaters gelagert ist. "Ich will ihn berühren, ihn küssen“, sagt die trauernde Tochter. Ihr Bruder steht hingegen nur mit verschränkten Armen davor, sagt nichts - beide Reaktionen skizziert Puls in Sekundenschnelle.

Die Inszenierung trifft den leichten Tonfall des Buchs

Ihre Schauspielkunst ist der Zugewinn, der die Verluste aufwiegt, die sich in der Regel ergeben, wenn ein Roman zu einem Bühnengeschehen kondensiert wird. Mit einem guten Bewusstsein dafür, was sich auf die Bühne übertragen lässt, hat Puls eine eigene Spielfassung erstellt. Unterstützt von Verena Regensburger hat sie Regie geführt, setzt sich also selbst in Szene, so, wie Autofiktion ja im Grunde auch immer eine Selbstinszenierung ist. Mitunter droht jedoch die Aufmerksamkeit abzudriften, die Form den Inhalt, die hohe Kunst das Thema zu überwölben.

Man schaut nun mal gerne Wiebke Puls zu, sie zeigt hier erneut ihr großes Können, wechselt die Spielhaltungen präzise, lässt einen Gefühlsausbruch zwischen Weinen und Lachen oszillieren, ist die Tochter, verwandelt sich aber im Nu auch in den alten Pfarrer, der sich bei einem ersten Treffen mit Anne erst mal nicht an deren Vater, eigentlich ein vertrautes Gemeindemitglied, erinnern kann und beim Gedenkgottesdienst zwischendurch einschläft. Den alten Kauz zeichnet Puls als heitere Karikatur - ihre Inszenierung trifft den trotz aller Tragik leichten Tonfall des Buchs sehr gut.

Wiebke Puls.
Wiebke Puls. © Armin Smailovic

Während sie an manchen Stellen auch Annes Umfeld spielt, interagiert Puls an anderen Stellen mit Soundfiles, die sie großteils selbst eingesprochen und zusammen mit Johann Jürgen Koch produziert hat. Wann gespielt, wann eingespielt wird, folgt keinem klar durchschaubaren Prinzip. Manche emotionalen Momente verschenkt Puls auch, etwa, wenn sie den Brief einer Jugendfreundin des Vaters nicht komplett selbst vorträgt, sondern das vorproduzierte Hörspiel übernehmen lässt. Dennoch gelingt ihr das facettenreiche Porträt einer Tochter, die um einen Vater trauert, der einerseits als feinfühliger, dem Zen-Buddhismus zugeneigter Mann wirkt, andererseits durch seine Alkoholsucht und der damit verbundenen Gewalt die Familie belastete.

Mit seiner Gattin, die vor ihm starb, stand er in einem ständigen "Bürgerkrieg“, wobei die Tochter nach seinem Tod vor allem zu hören bekommt, was für eine "Heilige“ ihre Mutter war. Zu Annes Trauerarbeit gehört auch eine Beschäftigung mit patriarchalischen Strukturen - und eine finale Versöhnung mit ihrem Bruder, der vom Vater den Hang zur Aggression vererbt bekommen hat.

Die Begegnung mit einer Elster, vom Bruder zeitweise adoptiert, steht am Ende des Romans und erzählt metaphorisch von der vielleicht spürbaren Präsenz des Toten im Alltag der Lebenden. Puls kleidet sich schwarz, vogelhaft, ist die Elster, der Vater, Anne in einem und singt Céline Dions "Parler à mon père“. Breitet ihre Arme aus, befreit, fulminant im Scheinwerferlicht. So endet der Abend mit einer Gesangsnummer, von Wiebke Puls grandios performt. Der Roman hingegen endet mit dem Verschwinden der Elster, mit sanfter Melancholie, der Lücke, die der Tod hinterlässt.

Kammerspiele, wieder am 25.10., sowie 6., 13., 22.11, jeweils 20 Uhr, Karten unter 233 966 00

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