"Ouvertüren" mit dem Bayerischen Staatsballett: Wer hat Deutungshoheit?
München - Politisch hat sich Alexei Ratmansky klar entschieden.
Kurz nach Kriegsausbruch nahm der seit langem in den USA lebende, international erfolgreiche Choreograf ukrainisch-russischer Herkunft die Flagge der Ukraine neu ins Schlussbild seiner acht Jahre zuvor in New York uraufgeführten "Bilder einer Ausstellung" zur Komposition von Modest Mussorgsky: ein unübersehbares Zeichen seiner Solidarität mit den vom russischen Militär Überfallenen im Mittelstück des dreiteiligen Ballettabends "Passagen" beim Staatsballett.
Alexei Ratmansky: "Tschaikowsky ist unglaublich gut tanzbar"
Nun folgt mit dem Abendfüller "Tschaikowsky-Ouvertüren" eine bereits damals geplante Ratmansky-Uraufführung. Handelt es sich dabei nicht um eine verfängliche Musikauswahl?
Der Tanzkünstler, der vor Probenbeginn am Laptop mit Kopfhörern total konzentriert in die Welt Tschaikowskys abtaucht, bevor er sich wenig später mitten in eine Gruppe von Tänzern mischt, verneint sogleich und gerät stattdessen ins Schwärmen: "Tschaikowsky ist unglaublich gut tanzbar. Seine Kompositionen haben wunderbare Melodien. Gerade was die Melodik angeht, ist er wirklich fantastisch. Zudem ist er ein Klangmagier und perfekter Dramaturg der inneren Struktur seiner Werke, die sehr emotional und überhaupt nicht trocken sind." Tschaikowsky, den Russen, will Ratmansky keinesfalls Putins alleiniger Deutungshoheit überlassen.
Ratmanskys Herausforderung: Die Fantasie-Ouvertüren beruhen auf Shakespeare-Dramen
Für seine Neukreation hat er sich drei hierzulande eher selten zu hörende sinfonische Rosinen des Spätromantikers herausgepickt: "Meine Wahl fiel auf 'Hamlet'' für den ersten Teil, dann kommt 'The Tempest' und zum Schluss 'Romeo und Julia'. Alle drei Fantasie-Ouvertüren beruhen auf Shakespeare-Dramen. Damit wollte ich mich selbst herausfordern." Jede der Kompositionen verlangt den vollen Orchestersound und hat eine Länge von ungefähr 20 bis 25 Minuten.
"Es sind richtige Minidramen in Ouvertüren-Form, also recht kurz", führt Ratmansky weiter aus. "Innerhalb dieser Zeitspanne gelang es Tschaikowsky, alle Wendungen der jeweiligen Geschichte darzustellen. Seine Musik spiegelt aber nicht die kompletten Handlungen wider, einige Charaktere fehlen oder werden einfach übersprungen. Und gewisse Handlungsstränge scheinen Tschaikowsky schlicht egal gewesen zu sein."
In "Romeo und Julia" treten drei Solisten-Paare auf, die beispielhaft für das Liebespaar stehen
Dementsprechend mutet die Arbeitsweise des Choreografen im Ballettsaal ziemlich frei an. Er probiert vieles aus und ist noch unschlüssig, ob es nur wenige oder mehrere Rollen geben wird. Das Publikum soll sich eben überraschen lassen. In "Romeo und Julia" jedenfalls - diesen dritten Teil des Abends hat Ratmansky bereits bühnenfertig - lässt er drei Solisten-Paare auftreten, die alle beispielhaft für das Liebespaar stehen.
Wer die Vorlage kennt, mag da bisweilen im Vorteil sein, muss es aber nicht. "Man kann sich darauf einstellen, dass das Ganze eben etwas abstrakter abgehandelt wird" resümiert Ratmansky und ergänzt: "Deshalb bin ich dankbar, dass man im Ballett nicht alles in klare Worte fassen oder erklären muss. Tanz funktioniert zum Glück ohne das."
"Konkret ausgearbeitet finden sich bei Tschaikowsky die Dinge, die ihn bewegt und begeistert haben", konstatiert der Choreograf. So etwas mag mal illustrativ, mal wie eine reine Reflexion oder Meditation über ein bestimmtes Thema wirken. "Quasi als Einleitung haben wir die achtminütige 'Elegie' von Tschaikowsky vorangestellt - noch bevor wir mit 'Hamlet' richtig loslegen. Allerdings werden Shakespeare-Charaktere oder -Figuren, die exakt wiederzuerkennen sind bzw. sich entwickeln, nicht auf der Bühne zu sehen sein."
Findet Ratmansky im rein Emotionalen seinen roten Faden?
Die Hauptaufgabe für Ratmansky besteht im Wesentlichen darin, der Power wie Bedeutung von Tschaikowskys großartiger Musik mit einem klassisch grundierten und doch zeitgenössischen Tanzvokabular gerecht zu werden. Ob er im rein Emotionalen seinen roten Faden finden wird? Die Grauzone zwischen Erzählerischem und angestrebter Abstraktheit scheint ihn nicht nur zu interessieren, sondern zugleich Quelle seiner Inspiration zu sein. Für den Rest wird hoffentlich Ratmanskys Entscheidungsfreude sorgen.
Premiere: 23. Dezember, Nationaltheater. Weitere Vorstellungen am 26. Dezember (15 und 19.30 Uhr) und 27. Dezember, sowie am 8. April und 5. bzw. 7. Mai - Karten online und unter Telefon 21 85 19 20