"Lucia di Lammermoor" in Salzburg: Wenn der Wahnsinn greifbar wird
Da toben die Elemente im Orchester, wenn sich Tenor und Bariton im Turm von Wolfcrag feindlich gegenüberstehen - und im Großen Festspielhaus Salzburg grollt sogar der Donner mächtig aus den Lautsprechern. Edgardo, der sich von der geliebten Lucia betrogen wähnt, und Lucias Bruder Enrico, der erfolgreich war bei seinem Plan, zwischen die beiden einen Keil zu treiben und die Schwester nach seinen Wünschen zu verheiraten: Sie können die jeweils erlittene Schmach nur noch mit Blut abwaschen.
Wer braucht da Bühnenbild, Kostüm und Maske?
Das heißt, Benjamin Bernheim und Ludovic Tézier stimmen nach grimmiger Wechselrede und Einigung auf ein Duell ihr düsteres und dennoch einträchtiges Marschduett an - und legen in der zweiten Strophe, zu noch mehr Donnern, entsprechend nach. Wer braucht da Bühnenbild, Kostüm und Maske? Die versammelten Melomanen jedenfalls nicht: Die hängen dann auch beim bewegenden, von Glasharmonikatönen umflirrten Wahnsinn der Lucia an Lisette Oropesas Lippen - und die Opernwelt ist schlicht in Ordnung.
Die konzertante Aufführung gegen Ende des Festspielsommers galt in den letzten Jahren meist einem Wunschstück von Plácido Domingo: Das hat dazu geführt, dass dessen soigniert-finanzkräftiges, in Ehren mit dem Star ergrautes Publikum auch jeweils in Salzburg nochmals Station machte. Nun ist auch das vorbei - und die Planung muss sich nach anderen, qualitätvollen Zugpferden umsehen, um rund um die letzten szenischen Opernaufführungen und Orchestergastspiele noch Attraktionen und Alternativen zu bieten.
Diese "Lucia" überzeugt allein durch ihre musikalische Qualität
Jenseits der Wunschliste des zum Bariton gewordenen Tenors gelingt es sogar, das Stück besser in die Gesamtdramaturgie einzubinden: Immerhin lässt sich das Schicksal von Gaetano Donizettis Lucia, die vom Bruder in eine Ehefalle gelockt wird, aus der sie nur durch Tod entkommen kann, gleichsam als Vor-Echo der Konstellation in Leo Janáčeks "Katja Kabanová" betrachten, einem Höhepunkt des diesjährigen Programms. Aber gottlob brauchte diese konzertante "Lucia" keinerlei dramaturgische Stützkonstruktionen, sondern überzeugte allein durch ihre musikalische Qualität.
Das begann schon am Pult. Daniele Rustioni, Musikdirektor in Lyon und Erster Gastdirigent der Bayerischen Staatsoper, sieht seine Aufgabe nicht einfach darin, den Stimmen einen faltenfreien roten Teppich auszurollen, auf dem sie dann möglichst ungestört dahinstolzieren können. Im Gegenteil, er macht die im Bühnenalltag immer noch üblichen Striche auf, lässt also nicht nur das früher oft ganz weggelassene Turmbild spielen, sondern vor allem auch die vielen zweiten Strophen.
"Lucia di Lammermoor" in Salzburg: Fesselnde Aufführung
Und siehe da, das restauriert nicht bloß abstrakte Formschemata, sondern bedeutet sogar mehr Drama - weil nämlich die jeweils adressierten Gesprächspartner bei der Wiederholung dann sehr oft auf das zunächst stumm Gehörte reagieren. Außerdem hängt Rustioni nicht dem "come scritto"-Gebot der Toscanini-Schule an, sondern erlaubt allerlei eingelegte hohe Töne. Zusammen mit dem unter seiner Leitung romantisch-schwelgerisch klingenden, aber immer wieder auch dramatisch zupackenden Mozarteumorchester und dem tadellosen Philharmonia Chor Wien ergab das eine fesselnde Aufführung.
Lisette Oropesa liefert glanzvolles Festspieldebüt ab
Nicht zuletzt natürlich wegen der US-Amerikanerin Lisette Oropesa, die bei ihrem Festspieldebüt zeigen konnte, warum sie derzeit als erste Wahl für diese Partie gilt. Sie besitzt einen durchaus fleischigen, aber dennoch schlanken Sopran von ausgeglichenem Glanz, der sich aus tragfähiger Mittellage ebenmäßig in die Höhe erhebt.
Die spektakulär schwebenden Pianissimo-Silberfäden einer Gruberová mögen ihre Sache nicht sein - aber Oropesas jugendliche Leuchtkraft, vokale Anmut, Beweglichkeit und ihr bei aller Kantabilität durchaus wort- und situationsbezogener Vortrag lassen mit Lucias Schicksal und dieser Stimme mitfiebern. Dass beim hohen Es dann nicht nochmals gleichsam eine Tür in jenseitige Gefilde aufgeht, sondern bei aller Sicherheit doch auch eine Grenze erreicht ist, kann man verschmerzen.
Auf demselben Niveau agiert auch Benjamin Bernheim: Da ist nicht das schlanke vokale Silber eines Juan Diego Flórez zu vernehmen, schon gar nicht die baritonale Bronze älterer Stimmkollegen, sondern so etwas wie biegsames, aber zugleich höchst belastbares Weißgold.
Die dramatischen Reserven seines Tenors sind beachtlich. Das Piano klingt manchmal etwas verhangen, hin und wieder schleift er hohe Töne an - aber immer mit Geschmack und vor allem einem differenzierten Ausdruck, der Stimmungen in Stimmfarben umsetzen kann und nicht durch Artikulation simulieren muss. Grimmige Diktion ist eher die Domäne des habituell aufgebrachten Enrico: Ludovic Tézier mischt seiner Interpretation vielleicht eine Prise Versimo zu viel bei, aber weiß dennoch sängerisch gut zu vermitteln zwischen Kantabilität und Kantigkeit.
Tadellos das übrige Ensemble: Als Raimondo ist Roberto Tagliavini ganz qualitätsvoller Comprimario mit kantabel schlankem Bass, Riccardo Della Sciucca verdingt sich in der undankbaren Rolle des Arturo, und als Alisa und Normanno sind Ann-Kathrin Niemczyk und Seungwoo Simon Yang vom Young Singers Project zu hören. Großer Jubel.