"Gott" im Residenztheater: Ich und die anderen
Die Freiheit, sich jederzeit aus dem Leben verabschieden zu dürfen, gilt als höchste Autonomie. Aber weil's der Mensch bequem liebt, soll ihm der Arzt den schmerzlosen Giftbecher reichen. Das verträgt sich allerdings nicht mit dem beruflichen Ethos der Mediziner, die heilen und Leid lindern, aber nicht töten sollen.
Ferdinand von Schirach behandelt diesen Widerspruch in seinem Theaterstück "Gott". Es war bereits im November als Fernsehspiel in der ARD und erreicht nun - mit coronabedingter Verspätung - die Bühne des Residenztheaters.
"Gott": Die Zuschauer stimmen über Leben oder Tod ab
Die Frage ist akut, weil das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 die Sterbehilfe liberalisiert hat und die vom Gericht angemahnte gesetzliche Neuregelung bisher nicht erfolgt ist, unter anderem, weil Jens Spahn aus Gewissensgründen die Entscheidung des Gerichts ablehnt.
Schirachs Stück ist dezidiert kunstlos. Der Ethikrat - vertreten durch das Publikum - hört den Antrag der 68-jährigen Elisabeth Gärtner, die nach dem Tod ihres Mannes jede Lebensfreude verloren hat. Sie möchte mit Hilfe von Pentobarbital sterben. Juristisch, medizinische und theologische Experten erläutern die Problematik, am Ende dürfen die Zuschauer mit grünen und roten Karten abstimmen.
Die Premiere ergab eine Zweidrittelmehrheit für das Ableben von Frau Gärtner. Sie bleibt - was Schirach nicht genügend herausarbeitet - ohne jede Konsequenz, weil sich erst ein Arzt finden müsste, um den Giftbecher zu reichen. Und das scheint eher aussichtslos, weshalb Betroffene sich meist an Sterbehilfevereine in der Schweiz wenden.
Bewundernswerter Minimalismus
Schirachs Text besteht primär aus geschliffenen, rationalen Rededuellen. Nur einmal wird es emotional, wenn die um Worte ringende Frau Gärtner den Ärztefunktionär der Arroganz zeiht. Charlotte Schwab spielt die Todessüchtige als etwas gehemmte, schüchterne, um Worte ringende Frau - mit einem Minimalismus der Mittel, der bewundernswert ist.
Die Münchner Textfassung macht Frau Gärtner um zehn Jahre jünger und betont damit ihre Forderung nach einer autonomen Entscheidung über das Lebensende.
Max Färberböcks Inszenierung gibt sich fast noch kunstloser als Schirachs Text. Sie verweigert die Atmosphäre von Anhörung und Gericht und steigert den Konflikt durch sehr neutrale Kostüme vom Juristischen ins allgemein Menschliche.
Das Stück ergreift keine Partei – man ist stets hin- und hergerissen
Wer sich als Zuschauer auf dieses Debattentheater einlässt, wird die Erfahrung machen, dass Schirachs Stück keine Partei ergreift. Man ist als Beobachter stets hin- und hergerissen, weil die Argumente beider Seiten überzeugend sind.
Für das Recht auf Selbsttötung spricht die Idee der Autonomie des Einzelnen, dagegen der mögliche Missbrauch, lästige Alte und Kranke aus ökonomischen Nützlichkeitserwägungen in den schmerzlosen Tod zu drängen.
Zu viel Raum für katholische Vertreter
Schirach stellt - auch durch Figurennamen wie Biegler, Keller, Litten und Sperling - eine maximal nach Sauerkraut riechende deutsche Gesellschaft auf die Bühne, und das, obwohl das Stück laut Text in Berlin spielen soll. Gegen Ende erhält der katholische Vertreter zu viel Raum.
In Deutschland ist nur noch knapp die Hälfte der Bevölkerung Mitglied einer der christlichen Kirchen. Da hätte es nicht geschadet, Positionen der Philosophie oder anderer Weltreligionen mit einzubeziehen, statt eine lange Viertelstunde über die Bibel, Augustinus, Thomas von Aquin und Hans Küng zu streiten.
"Gott" ist keine reine Freude für die Schauspieler
Für Schauspieler ist "Gott" keine reine Freude. Michael Wächter darf als Anwalt eine leicht übergriffige Arroganz darstellen. Evelyne Gugolz zeigt als Ärztin körpersprachlich, wie sehr ihr der Todeswunsch ihrer Patientin widerstrebt.
Robert Gallinowski (Vorsitzender), Robert Dölle (Mediziner) und Michael Goldberg (Bischof) verkörpern sonore Würde. Juliane Köhler bleibt als Rechtssachverständiger nicht viel mehr, als ihren trockenen Text aufzusagen.
Häufiger Einsatz der Souffleuse
Die Souffleuse (Anna Dormbach) war stark gefordert, weil die menschlichen Thesenträger öfter ins Schleudern kamen. "Gott" ist kaum ein Fest der Schauspielkunst oder des spielerisch Ästhetischen. Aber die Aufführung löst ein, was Theater oft nur behauptet: den Eingriff in eine wichtige gesellschaftliche Debatte.
Der Tod ist ein unangenehmes, gern verdrängtes Thema. Man sollte sich mit dem Lebensende beschäftigen, solange man noch im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte ist. Dazu liefert "Gott" wichtige Anstöße, und letztendlich macht es auch Spaß, klugen Bühnenfiguren beim Austausch ihrer Argumente zuzuhören.
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