"Engel in Amerika" am Residenztheater: Himmelsboten im Neoliberalismus
Beim Schlussapplaus eines schwer beeindruckten Publikums, wenn sich das Ensemble an der Rampe aufreiht, ist man dann doch erstaunt, in den letzten fünfeinhalb Stunden tatsächlich nur drei Schauspielerinnen und fünf Schauspielern bei der Arbeit zugesehen zu haben. Die "schwule Fantasie über nationale Themen" bietet fast 30 Rollen auf für ein überbordendes Erzähltheater. Darunter sind Homosexuelle, Heterosexuelle, Verliebte, Enttäuschte, Quicklebendige, Todkranke und Tote, ein Rabbi, ein Promi-Anwalt, den letzten russischen Kommunisten und mehrere Engel.
Rassismus, Antisemitismus und Homophobie: Abrechnung mit den USA
Das zweiteilige Stück ist eine zornige Abrechnung mit den USA und ihren Eliten. Der dafür mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Tony Kushner beschreibt Rassismus, Antisemitismus und Homophobie als die konstituierenden Elemente einer Gesellschaft. Er schrieb ein süffiges Sittenbild, tragikomische Seifenoper und ein Mysterienspiel über den Einbruch der Transzendenz in eine säkulare Welt. Das Stück wurde 1991 in San Francisco uraufgeführt, wo es auch spielt – abgesehen von kurzen Ausflügen zu den Mormonen in Salt Lake City, den Eskimos in der Antarktis (wo es eigentlich keine Eskimos gibt) und den Verstorbenen in einer Welt, bei der unklar bleibt, ob sie wirklich besser ist als die da unten.
Teil 1 ist mit "Die Jahrtausendwende ist nah" betitelt, und in der bereits sieben Jahre alten Inszenierung von Simon Stone lässt sich nicht immer übersehen, dass die Jahrtausendwende auch schon wieder mehr als 20 Jahre her ist. Im Teil 2 feierte Kushner die "Perestroika", an die man sich leider nur noch als historische Fußnote erinnert. Für Intendant Andreas Beck und seinen Hausregisseur Simon Stone war diese Produktion der Beginn einer höchst erfolgreichen Zeit am Theater Basel.
München-Premiere wegen Corona immer wieder verschoben.
Gleichwohl bleibt das Werk bis heute ein Theaterereignis von einer geradezu klassischen Schönheit. 2015 schwärmte man von einer neuen "Basler Dramaturgie", einem Begriff, der noch auf Friedrich Dürrenmatt zurück geht. Die München-Premiere wurde aber wegen Corona immer wieder verschoben. Jetzt konkurriert es mit "Das Vermächtnis" von Matthew Lopez, dem zweiten Opus magnum über schwules Leben und Sterben in Amerika. Um Kannibalisierung zu vermeiden, steht Philipp Stölzls Inszenierung vorläufig nicht auf dem Spielplan.
In Basel war es dann auch, wo viele Jahre später, 2003, ein weiteres Medikament gegen Aids entwickelt wurde. Bei Kushner gibt es, wenige Jahre nach Ausbruch der Viruserkrankung, in den 80ern erst einen und noch nicht zugelassenen Wirkstoff namens AZT. Der berühmte – und nicht fiktive – Anwalt Roy Cohn (Roland Koch) ist Anwalt Superreicher wie Donald Trump und kann es sich leisten, sich das neue Wundermittel ins Krankenhaus liefern zu lassen. Nur darf das niemand wissen, denn für Cohn, den juristischen Vertreter der republikanischen Macht in Wirtschaft und Politik, ist der Hass auf Schwule und Schwarze das lukrative Businessmodell.
Sein schwuler und schwarzer Krankenpfleger Belize (Benito Bause) erpresst seinen Patienten, den er von ganzem Herzen verachtet, und kann so für infizierte Freunde von Cohns Vorräten etwas abzweigen.
Zu denen gehört auch Prior (Nicola Mastroberardino), der von seinem Geliebten Louis (Florian Jahr) verlassen wurde, weil er den körperlichen Zerfall seines Freundes nicht ertragen kann. Das zweite unglückliche Paar ist Harper (Pia Händler), deren Mann Joe (Michael Wächter) seine homosexuelle Veranlagung entdeckt und eine Affäre mit Louis beginnt.
Sensationell stark gespielten Szenen und Dialoge
Das geschieht alles in rasant getakteten und sensationell stark gespielten Szenen und Dialogen, denen erst gegen Ende ein wenig die Puste ausgeht.
Auf der Bühne, die Ralph Myers als Künstlergarderobe in einer Art Großraumbüro einrichtete, genügen wenige Versatzstücke für die Schauplätze.
Und wie tritt ein Himmelsbote auf? Es kann sein, dass er in eine Krankenschwester fährt, die plötzlich hebräisch spricht, oder der Engel (Myriam Schröder) kracht spektakulär durch die Decke, wo dann ein Loch zur Unendlichkeit klafft.
Residenztheater, wieder am 2. und 23. Oktober, 17 Uhr und am 16. Oktober, 16 Uhr, Tel.: 089 - 21 85 19 40