Dramendreiteiler am Residenztheater: Die Vergangenheit ist nie vorbei

Stephan Kimmig inszeniert im Residenztheater überwältigend eine Trilogie der Autorin Judith Herzberg.
Mathias Hejny |
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Lea (Liliane Auat) heiratet Nico (Thomas Lettow).
Lea (Liliane Auat) heiratet Nico (Thomas Lettow). © Sandra Then

München - Generationenübergreifende Zeitpanoramen haben in Münchner Theatern gerade Konjunktur. Die Kammerspiele eröffneten die Saison mit "Effingers" nach dem Roman von Gabriele Tergit über zwei deutsch-jüdische Bankier- und Industriellendynastien zwischen den 1880er- und 1930er Jahren. An gleicher Stelle blickt der Argentinier Mariano Pensotti in "Los Años" aus dem Jahr 2050 zurück auf 2020. Jetzt stemmt das Residenztheater einen 1972 beginnenden, in der Judith Herzberg von einer weitverzweigten jüdischen Großfamilie in den Niederlanden erzählt.

In der Großelterngeneration sind das Grauen des Zweiten Weltkriegs und der antisemitische Terror der deutschen Besatzer vor 1945 noch traumatisch präsent. Den Beginn markiert "Leas Hochzeit" aus dem Jahr 1982. Lea (Liliane Amuat) heiratet Nico (Thomas Lettow) und beginnt damit ihre dritte Ehe, die ebenfalls scheitern wird. Hier präsentiert Herzberg in kurzen, locker hingetupften Dialogen das Personal.

Zwart (Robert Dölle), Vater des Bräutigams, kommt beim Erläutern der Familienverhältnisse dennoch zu dem Schluss: "Also - ich finde das alles ganz schön kompliziert".

Kimmig montierte den Beginn des letzten Teils an den Anfang

Richtig kompliziert wird es in "Heftgarn", dem 1996 uraufgeführten Mittelteil. Simon (Steffen Höld), der inzwischen 63-jährige Patriarch der Sippe, Leas Vater und verheiratet mit Ada (Barbara Horvath), die mit ihm die Jahre im Konzentrationslager überlebte, zeugt mit der 39-jährigen Dory (Carolin Conrad) ein Kind. Nur die Nachfahren, so Simons Plan, könnten von dem unsagbaren Geschehen auch in Zukunft Zeugnis abgeben. Zum Ende des Jahrhunderts liegt Simon, der dem Stück aus dem Jahr 2002 auch den Titel gibt, im Sterben.

Stephan Kimmig montierte den Beginn des letzten Teils an den Anfang seiner Inszenierung. Auf diese Weise wird schon die dritte Generation sichtbar: Xandra (Linda Blümchen) und Chaim (Niklas Mitteregger) finden in den großen Fragen von Schuld, Schuldgefühlen, Verantwortung und Moral ein weites Feld für mit jugendlicher Kompromisslosigkeit ausgetragene Auseinandersetzungen.

"Die Träume der Abwesenden" verspricht Geheimnisvolles

Isaac (Max Rothbart), der Sohn von Lea und Simon, ist bei Kimmig schon vor seiner Geburt in Gestalt von Daniel anwesend - als ein Geist, der menschliche Gestalt annehmen kann, wie ein transzendenter Zeremonienmeister die Auf- und Abtritte steuert und den oft etwas bemüht mystischen Sound von Nils Strunk live und elektronisch erzeugt. Das hat seinen poetischen Reiz, unterläuft aber auch die raffinierte Leichtigkeit der Dialoge. Schon der kryptische Titel "Die Träume der Abwesenden" verspricht Geheimnisvolles, was der Text nicht halten kann und auch nie wollte.

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Als Stephan Kimmig sich zuletzt vor zehn Jahren in Berlin mit der mittelständischen Familienaufstellung beschäftigte, hieß das Projekt griffiger und treffender "Über Leben". Auch die Bühnenbildnerin Katja Haß war damals schon dabei. Für den 2021er-Jahrgang der Herzberg-Trilogie riss sie die Bühne des Residenztheaters völlig auf. Wenn es nicht gerade im Schnürboden versteckt ist, dominiert ein riesiges Leuchtobjekt den Raum, das Kimmig im AZ-Interview als "Ewigkeitslicht" bezeichnete. Der Riesenglobus verströmt überwältigend Sakrales, aber das Überwältigendste ist, wie triumphal das Ensemble gegen diese Atmosphäre anspielt.

So kann man einer sensationellen Hanna Scheibe als Riet zusehen, die als "Kriegsmutter" die kleine Lea versteckte und als Heldin bewundert wird. Aber ein bisschen Konversation kann ein Minenfeld werden, wenn Riet begeistert einen Spielfilm über den französischen Widerstand schildert: Ein Mann kam ins KZ und "er war gar kein Jude. Er war unschuldig."

Die jetzt 87-jährige Judith Herzberg war bei der Premiere dabei und der stürmische Schlussbeifall galt nach fünfstündiger Aufführung auch einer Autorin, die solche Gestalten erfindet und kein Pathos braucht, um ein jenseits jeder Vorstellung liegendes Ereignis wie den Holocaust im Alltag der Zeit danach spiegeln zu können.

Residenztheater, wieder am 1., 15., 16., 31. Oktober, 17 Uhr, Telefon 2185 1940

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